zum Inhalt
  • Galerie und Kulturzentrum in Weimar
  • So–Do 12–18, Fr–Sa 12–20
  • +49 3643 851261

Ausstellungen

Gökçen Dilek Acay — Have you ever touched a bug's belly?

Soloausstellung

Sa., 01.02.2025–So., 13.04.2025

Besuch planen

Lesedauer etwa 16:56 Minuten

Haben Sie jemals den Bauch eines Käfers berührt?

Diese eher ungewöhnliche Frage stellt Gökçen Dilek Acay an den Anfang ihrer mit 245 Arbeiten auf 400 Quadratmetern bislang umfassendsten Einzelausstellung, mit der sie nicht nur zu ihren Anfängen als Künstlerin zurückkehrt, sondern auch ihre während des letzten Jahrzehnts weltweit gesammelten künstlerisch-inhaltlichen, ästhetisch-kritischen und handwerklich-praktischen Erfahrungen vereint. Generell geht es in ihrer Arbeit um eine Reflexion des politischen Klimas. Acay spricht Themen wie die Zerstörung historischer und sozialer Werte, Machtstrategien im geopolitischen Weltgeschehen und vorherrschende soziale Probleme an. Sie erforscht die komplexe Schnittstelle zwischen Macht, Identität und der menschlichen Existenz, stellt Begriffe wie Zerbrechlichkeit, Isolation und Vertreibung in den Mittelpunkt ihrer Ausstellung, tritt den Werten der Zeit, in der wir leben, skeptisch gegenüber. Aktuelle politische und gesellschaftliche Irrtümer kombiniert sie beispielsweise auf kleinen Notizen und Zeichnungen mit Humor und Ironie. Mit einem poetischen Ansatz verbildlicht sie die unerträgliche Last des Menschseins, die zerbrechlichen Seiten des wilden Menschen. Charakteristisch für ihre künstlerische Praxis sind die wichtige Rolle von Bewegung, Körper und Klang in ihren Arbeiten wie auch deren visuelle Intensität und technische Vielfalt, nicht minder der interdisziplinäre Dialog zwischen bildender, darstellender und Medienkunst, der sich in ihrer Zusammenarbeit mit Tänzerinnen, Musikerinnen und bildenden Künstlerinnen ausdrückt. An Acays Eröffnungsperformance zu Nähe und Distanz wirkten z.B. Rand Ibrahim und Eunji Lee  mit. Für die Ausstellung entstanden Werke, in denen die türkische Künstlerin Materialien wie Menschenhaar, Rauch, Zucker, Wachs, Latex, Textilien und Neonlicht, Handwerkstechniken wie Klöppeln, Häkeln, Weben, Sticken, Färben, Keramik und Porzellanmalerei und Disziplinen wie Film, Fotografie, Zeichnung, Installation und Performance anwandte.

Ein Galerierundgang

21 Blumen – von der Ackerringelblume bis zum Zwergweichsel –, in wildem Bouquet auf drei handkolorierten Siebdrucken namens Zusammenleben miteinander vereint, muten zwar frisch und lebhaft an, benennen jedoch eine Gruppe in Thüringen bereits ausgestorbener und vom Aussterben bedrohter Pflanzen. Vereinzelte Hände an den Bildrändern deuten auf das „Handgreifliche“, den stets egozentrisch-brutalen Zugriff unserer dominanten Spezies, der „Krone der Schöpfung“, auf Flora und Fauna. Die floral-stuckiert-pinkfarbene Barockdecke dieses „Saales“, in dem Goethe sein zweites Weimarer Jahr samt Geheimratsernennungssause abfeierte, und eine aufklärende Extincted-Species-Take-Away-Liste lassen das Konzeptuell-Doppelbödige dieses „Thüringen-Traditionskabinetts“ durchscheinen. Als wäre das nicht genug, lauern gegenüber drei in die Tage gekommene pastorale Landschaftswandteppiche mit röhrenden Hirschen, Bambies, Rebhühnern und Bergbauden. Der mittlere Behang erinnert mit seiner in Brand geratenen und zur Dystopie verkommenen Idylle (wenn man mal von den UFOs absieht, die sich gerade Wildschweine und Wölfe hochbeamen) an das reale Gegenwartshollywood-Katastrophenszenario vor einigen Tagen. Flankiert wird dieser unbeschriftete zentrale Gobelin von zwei Stickbildern, die die Fantasiewörter „Seinsdrang“ und „Werdensdrang“ tragen. Der weltoffene, vom Forschergeist durchdrungene Goethe stellte, als er vor 250 Jahren seinen „Faust“ exakt hier vor Ort bearbeitete, Fragen zum Menschsein, zur Beziehung zwischen Mensch und Natur, zur Entwicklung des Individuums, dem Streben nach Erkenntnis und der ständigen Veränderung des Lebens.
Die Teppiche mit den Worten Seinsdrang und Werdensdrang sind ein Versuch mit seiner Perspektive in einen Dialog zu treten. An einer Seitenwand schließlich komplettiert eine von der Künstlerin mit einer Geisterlandschaft aus nebelschwadigen Sprechblasen („Ich bin Teil des Rauchs“) und teils halloweenschen Wesen übermalte Handkarte von Thüringen aus dem berühmten Justus-Perthes-Verlag Gotha das „Heimatzimmer“. Weimar wird dabei zangenartig von einer Hand umfasst und einer Bemerkung „Ich habe hier kein Zuhause mehr“ flankiert. An anderer Stelle findet sich der Kommentar „Der Boden, auf den du trittst, ist nur ein Teil der Erdoberfläche.“ Eines nackten Nietzsches Sprechblase bleibt leer. Sein Geist ward gespenstisch gespiegelt, er verstarb 1900 „geistig umnachtet“ in Weimar. Und im Nordwesten des Planes heißt es unweit zweier Figuren, die an KZ-Häftlinge erinnern. „Sie waren immer hier, sie gingen und kamen nicht zurück.“
Sind es in diesem Raum Stickereien auf Alttextilien, Zeichnungen auf kartografischer Vorlage oder Siebdrucke, so geht es im folgenden Raum – einer Art Naturkundemuseumsverschnitt – medial richtig rund: Dreikanalvideo, Häkeleien auf Stoff, Menschenhaar auf Seife, Bleistift auf Tierknochen, Katzenhaar auf Papier, Menschenhaarobjekte in Vitrinenkästen. Shaping DNA (DNA formen) sind letztere vier betitelt und wie die 13 Imaginären Fossilien und drei Steindrucke (mit Goldfäden) Stones are Talking ein Spiel und damit ein Befragen von archäologischen Funden und Sammlungen in der Institution Museum und letztlich eine Neukonstruktion von Geschichte: so könnte sie auch verlaufen sein. Denn erzählen uns Historie und Naturwissenschaft stets die Wahrheit? Wer weiß schon genau, was vor Zigtausenden von Jahren geschah. Das zwölfminütige Filmtriptychon Atomliebe ist von der französischen Trikolore inspiriert – ähnlich des Drei-Farben-Filmzyklus (1993-94) des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski (seine letzten Werke). In welcher Ära leben wir in Europa? Frankreich entscheidet sich 2021, 18 neue Atomkraftwerke zu bauen, während Deutschland versucht, alle Atomkraftwerke abzuschalten. Eine kranke und traurige Welt – Sick and sad world (aus Katzenhaar) liest man auf einer Zeichnung schräg gegenüber. Wohin bewegen wir uns? Wie geht es weiter? Was bleibt übrig? In den dystopisch anmutenden Filmen, die sich nicht aufeinander beziehen, sehen wir sich merkwürdig bewegende Menschen. Etwas stimmt nicht. Und krankhafte Zoobilder: Die Bewegungen der Tiere sind repetitiv, sie scheinen in den Tierparkgehegen mental erkrankt. Ein Eisbär zur Sommerzeit im Berliner Zoo – einen Monat nach dem Dreh ist er tot. Pinguine, die in diesem Habitat, wo nichts, weder zeitlich noch räumlich, passt, nichts verloren haben. Wir Menschen beeinflussen und bestimmen alles – der Rest ist egal. Eat yourself (wiederum aus Katzenhaar), „vernichte dich“, lautet von daher die Botschaft an uns selbst, erst dann können andere Spezies endlich Ruhe finden ... In der Filmtrilogie verschwindet eine Frau, Rauch steigt aus einer Vagina auf … Masken und Rituale beschwören die Frage herauf: Ginge es auch anders, indem die Natur unberührt bliebe? Sie bleibt unbeantwortet, wenn zu guter Letzt zwei affenähnliche Tierskelette miteinander in den Dialog treten: „In diesem Körper bin ich ganz ich selbst.“ – „Der einzige Unterschied zwischen uns ist, dass Du vor mir stehst!“

Mitten in einem sich anschließenden quadratischen White Cube hängen zwei per Siebdruck mit auf Pflanzenbasis entstandenen Farben produzierte Kimonos von der Decke. Früher war der Kimono die alltägliche Kleidung in Japan. Heute werden Kimonos nur noch zu besonderen Anlässen getragen, bei Hochzeiten, Teezeremonien oder zu Sportarten wie Kendō, während westliche Kleidung den Alltag dominiert. Jeder Kimono hat seine mittels Stoffen, Mustern und Farben zu identifizierende symbolische Bedeutung. Kimonos mit Motiven aus dem zeitgenössischen Leben wurden im Kaiserreich Japan zwischen 1900 und 1945 und während Japans Beteiligung am Zweiten Weltkrieg populär. Die Dekoration vieler Kimonos aus dieser Zeit (heute als omoshirogara, 面白柄, bezeichnet) stellte häufig die militärischen und politischen Aktionen Japans während seiner Beteiligung am Krieg auf der Seite der Achsenmächte dar. Kimonos dienten in jenen dunklen militaristischen Zeiten quasi als Leinwände. Im Englischen werden diese Kimonos als „Propagandakimonos“ bezeichnet. Gökcen Dilek Acay griff diese Idee auf und druckte rote, grüne, gelbe, blaue, schwarze und graue Symbole der (1936 eingeführten) Kennzeichnung der Häftlinge in den deutschen Konzentrationslagern zur Gruppierung und Kenntlichmachung der Gefangenen im Machtbereich des NS-Staates, also zur Erkennung der KZ-Häftlinge nach Ländern, „Rasse“, Vorverurteilungen etc. auf den linken, lilafarbenen ihrer Protestkimonos. Der rechte, blaue Kimono trägt ein Ornament aus hunderten bombenförmigen Elementen. Die Innenleben beider Kimonos hingegen sind mit lebendigen und pflanzlichen Motiven gestaltet, als Kontrast zu den dunklen Zeiten.

Eine der Kunstproduktionsmethoden Gökcen Dilek Acays ist das Zuckergießen – „weil Zucker leicht formbar ist, keinen Wert hat, vergänglich ist, denn er schmilzt, kann nicht ewig in seiner Form bleiben.“ Besonders bauliche Details an historischen Gebäuden haben es ihr angetan, „weil sie viel über Status, Macht und Reichtum, Lebens- und Denkungsart, Visionen und Sehnsüchte jener erzählen, die die Bauten errichteten. Es sind Signaturen, an denen man etwas ablesen kann, die ein Teil von uns sind, aber oft mit der Zeit verschwinden.“ Wandkeramiken, Mosaiken oder ornamentale Friese aus Marmor, Schiefer, Kalkstein, Metallguss, Gips oder Holz sind nicht selten dekorativ bemalt oder geschnitzt, zeigen mythologische Figuren, erzählen Geschichten in mehreren Tafeln oder sind mit geometrischen Motiven wie Streifen, Spiralen, Quadraten, Mäandern oder floralen Motiven verziert. 39 von verschiedenen chinesischen Architekturen inspirierte Kacheln aus Haushaltszucker und Wachs stellt die Künstlerin in ihrer Kollektion Es bleibt nichts übrig zur Schau. Es könnten Keramikfunde in einem archäologischen Museum sein, Scherben, die teils an lichtdurchlässigen, bräunlichen Bernstein erinnern.

Häufig verwendet Gökcen Dilek Acay in ihren Arbeiten Tiermotive. Sie sind die Hauptdarsteller, der Rollentausch zwischen Mensch und Tier ist ihr wichtig. Jedes Tier hat eine symbolische Bedeutung, der Hirsch steht für Anmut und Eleganz, Erneuerung und Wachstum, Achtsamkeit und Sensibilität, innere Schönheit und spirituelle Verbindung. Doch hier dient der Hirsch als Selbstporträt. Gökcen Dilek Acay formte ihre eigenen Ohren ab und transplantierte sie unters Geweih der Skulptur: „Wir sind vereint.“ Auch hier wieder ein Spiel mit der Wahrnehmung, eine Täuschung der Sinne: Eine einfache, kitschige Figur als Teil einer Aktion, die dem Abregen der eigenen Wut (der Ausstellungsbesucher*innen) dienen soll, denn wie heißt es auf einem Schild: „Wenn Du wütend bist, drück den Knopf.“ Drückt man den Knopf, fängt der Hirsch an, aus beiden Ohren zu dampfen. Die aus Gasthäusern, Heimatmuseen und Bergbauden bekannte Trophäe des Jägers, eigentlich eine Opferfigur, am Hals vom Körper getrennt, ändert ihre Funktion. Rauch, Dampf, Nebel auf Knopfdruck – die Eroberung der Fauna als ignorierte, vergängliche, verschwindende „kulturelle Leistung“.

Interview mit Gökcen Dilek Acay: 

ACC Zuletzt hatten wir 2022 miteinander zu tun, als im Rahmen der Weimarer Kunstfestausstellung über Thüringer Verführungen Deine Idee, eine Gruppe Schmalkaldener Förster in einem umliegenden Waldrevier mit 300 Schuss Munition das Wort Heimatliebe in eine riesige Holzplatte schießen zu lassen, jäh scheiterte. Angeblich wurde die nötige Munition auf Anordnung in die Ukraine geliefert. Was bedeuten Dir als gebürtige Istanbulerin Thüringen und Weimar? Sind sie eine zweite Heimat geworden oder waren nur Wohnort zum Studieren und Arbeiten, Mittel zum Zweck?
GDA Ich weiß, wir haben uns damals von dieser Idee verabschiedet. Zuviel Bürokratie ... Ich kam 2006 nach Weimar und habe seitdem immer zwischen zwei Ländern gelebt ... Dabei war die Rückkehr nach Deutschland für mich immer schwierig. Die Gastarbeiter bezeichnen Deutschland als „bittere Heimat“ (acı vatan). Aber mein Leben geht hier weiter. Ich habe keinen Ort in Istanbul, an dem ich mich wirklich wohlfühle. Ich gehöre nirgendwohin, und kein Ort ist für mich eine wahre Heimat. Mit diesem Gefühl der Entfremdung lebte und arbeitete ich 15 Jahre in einem kleinen Weimarer Zimmer, meinem Rückzugsort. Egal, wo ich bin, ich brauche ein Zimmer, in dem ich mich wohlfühlen kann. Außerdem liebe ich die deutsche Sprache, auch deswegen geht mir Deutschland nahe.
ACC Dennoch werden Deine türkische Heimat, Dein Elternhaus, Großmütter und Großväter, Dich ja irgendwie geprägt haben – obwohl Deine Mutter jüngst meinte, Du hättest ohne jegliche Unterstützung anderer alles aus eigener Kraft geschafft. Ich denke aber an die traditionellen Handwerkstechniken wie das Weben oder Sticken, die es Dir angetan haben, wenngleich Du oft auf unkonventionelle motivische Lösungen kommst: War die Arbeit mit den Händen für Dich seit früher Kindheit von großer Bedeutung?
GDA Meine Großeltern mussten ihr Dorf in Bulgarien verlassen, haben sich in der Türkei alles neu aufgebaut. Sie hatten nie Geld, alles wurde selbst erwirtschaftet. Meine Mutter und meine Oma sind Künstlerinnen, auch wenn sie das nie wussten. Sie haben alles mit der Hand repariert, Patchwork gemacht, gestickt, gehäkelt und selbst Klamotten genäht … Ich habe das gehasst, für mich war das Hausfrauenkram. Ich wollte nicht wie sie werden. Und doch – warum auch immer – hatte ich irgendwann nichts anderes als einen Nagel und einen Faden und habe damit etwas gemacht. So begannen meine Textilarbeiten, aus der Not geboren – 2010 während einer Künstlerresidenz in China.
ACC In einer Fotoreihe porträtierst Du auch Deine Verwandten, Menschen, die Dir nahestehen. Warum tust Du das und weswegen wandelst Du ihr Erscheinungsbild?
GDA Auf jenen Fotos sind mein Vater, mein Partner, meine engen Freunde abgelichtet. Oft habe ich meine Eltern fotografiert. Früher habe ich mich selbst in Szene gesetzt, Selbstporträts gemacht. Irgendwie geriet ich damit aber in einen Teufelskreis und so begann ich, Fotos von Menschen, die ich sympathisch fand, in theatralischem Ambiente zu machen, in dem sie sich selbst nicht befinden. Ich sehe das als ein Spiel, einen Kontrollimpuls … Die Menschen, die dir am nächsten sind, prägen dich natürlich, und du sie auch.
ACC Gibt es auch Künstler*innen, die Dich entscheidend prägten oder gar Deine Entscheidung mitverursachten, bildende Künstlerin zu werden?
GDA An der Spitze stehen für mich Cindy Sherman und Meredith Monk. Diese Frauen inspirierten mich auf meinem Weg, beeinflussten mich, das zu tun, was ich jetzt mache. Man sieht vielleicht stilistische Ähnlichkeiten zu Cindy Sherman. Ich war 20, als ich ihre Bilder zum ersten Mal sah und dachte: „Genau so!“ Meredith Monk ist eine andere Geschichte. Ich kann meine Bewunderung für sie kaum in Worte fassen. Sie ist eine Königin, wenn es um vokale Ausdrucksformen geht. Ich habe so viel von ihr gelernt. Sie ist mein Idol.
Und hast Du noch andere künstlerische Vorbilder?
GDA Roger Ballen, David Lynch, Pina Bausch, Robert Wilson. Und aus der Türkei Füreya Koral, Alev Ebüzziya Siesbye, İnci Eviner und Nil Yalter.
ACC Dann frage ich doch gleich noch generell: Welches Buch, welchen Film, welches Musikstück möchtest Du unter gar keinen Umständen auf dieser Welt missen?
GDA Ich bin ein Haruki-Murakami-Fan. Ohne seine Geschichten wäre das Leben langweilig. Und ich bin ein Film-Junkie, schaue unglaublich viele Filme, kann von daher nur die aktuellsten nennen, die mich beeindruckt haben: The Substance von Coralie Fargeat und Midsommar von Ari Aster, Uçurtmayı Vurmasınlar (Don’t Let Them Shoot the Kite) von Tunç Başaran und natürlich alle Filme von David Lynch – immer wieder. Das iranische Kino und seine Philosophie bedeuten mir viel. Ein Stück von Robert Wilson, Einstein on the Beach, war absolut beeindruckend, eine Produktion, die man nie vergisst.
Mit Wilson hast Du ja sogar gearbeitet. Die Antwort auf meine Musikfrage hast Du gerade weggelassen, obwohl Du ja aus der Musik kommst und zur Fortsetzung Deines Violinstudiums nach Weimar kamst: Wärest Du Violinistin geblieben, könntest Du ja jetzt Max Bruchs Violinkonzert spielen, oder? War es für Dich der richtige Schritt, die ernsten musikalischen Pfade zu verlassen?
GDA Ich hätte noch drei bis vier Jahre intensiven Übens gebraucht, um den Bruch zu schaffen, zumindest den ersten Teil zu meistern. Aber ich wäre nicht glücklich geworden, wenn ich nur Geige gespielt hätte. Ich war sehr streng mit mir selbst und fand, dass ich nicht gut genug war. Die Geige hat jedoch mein Leben gerettet. Durch sie habe ich Disziplin und Struktur erlernen können. Da ich von Natur aus ein chaotischer Mensch bin, half mir das enorm. Trotzdem bin ich froh, dass ich einen anderen Weg eingeschlagen habe.
ACC Zu oszillieren zwischen streng produktivem Schaffensregime und lockerem Sich-Ausprobieren, etwas versuchen, So-tun-als-ob, und dabei die Balance zu halten, stelle ich mir nicht ganz einfach vor. Wie wichtig ist für Dich der offene Prozess des Pfriemelns, Bastelns, Laborierens und Experimentierens? Bist Du ein homo ludens, ein spielender Mensch, der die Elemente einer Situation so verändert, dass Neues, Unbekanntes entsteht?
GDA Ich glaube, ich bin zu ungeduldig, um etwas so bleiben zu lassen, wie es ist. Alles muss zu etwas anderem werden können, damit diese alternative Realität mir die Kraft gibt, weiterzuleben. Das gilt allerdings nicht für Tiere und die Natur. Die sind perfekt erschaffen. Sie zu beobachten ist, als würde man einem Genie bei der Arbeit zusehen. Dieses Bedürfnis, nach einer Alternative zu suchen, hat mich in experimentelle Prozesse geführt. Alles begann mit der Geige. Nach einer Weile konnte ich die Stücke, die ich spielte, nicht mehr ertragen, und flüchtete mich in Werke aus der Neuen Moderne. Die für Geige geschriebenen Sonaten von Bartók, Hindemith und den Türkischen Fünf (Cemal Reşit Rey, Ulvi Cemal Erkin, Ferid Alnar, Ahmed Adnan Saygun und Necil Kâzım Akses) waren mein Ausweg. Diese musikalische Tiefe brachte mir eine alternative Sichtweise auf die Aufführung klassischer Musik. So verliebte ich mich aufs Neue in die Geige. Um etwas zu dekonstruieren, musst du es gut kennen. Das gelingt mir nur, wenn ich Geige spiele. Meine anderen Experimente sind inkonsequent, erfolglos und gefährlich. Aber ich habe gelernt, auch diese Ergebnisse zu schätzen.
ACC Das sehe ich anders. Aber Du erwähntest die Natur und die Tiere, als hättest Du ein besonderes Verhältnis zu ihnen. Was suchst Du in der Tierwelt und der Natur? Das Archaische, was Du beim Menschen nicht findest? Was können wir von der Tierwelt und der Natur lernen?
GDA Ich liebe Natur und Tiere, aber wenn Du mir ein Foto von einer Pflanze, einem Baum oder einem Tier zeigst, habe ich keine Ahnung, was es ist. Wenn ich im Wald bin, habe ich Angst. Ich stelle mir sofort vor, wie ich in der Natur zugrunde gehe, gefressen werde oder verhungere. Ich bin in der freien Natur nicht überlebensfähig und glaube, ich bin nicht die Einzige, der es so geht. Das zeigt, dass wir eine unsichtbare Grenze zwischen uns und der Natur aufgebaut haben. Genau deshalb wollte ich die Ausstellung so nennen, wie sie heißt: Es ist ein seltener Akt, des Käfers Bauch zu kitzeln, ohne zu wissen, wie es sich anfühlt. Eine Übung in Empathie. Mit dieser Erfahrung fühlt man sich dem Käfer vielleicht näher. Ich komme aus einer Betonmetropole, kann mich der Natur nur als Romantikerin nähern, sie bewundern. Ich möchte mich der Natur gegenüber nicht so fremd fühlen, sondern alles besser verstehen.
ACC Sind Deine Bilder verschwundener Pflanzen in Thüringen Teil dieser Sehnsucht?
GDA Wir sehen da einen Blumenstrauß aus Pflanzen, die nur in Thüringen verschwunden sind oder auf der Roten Liste stehen. Diese Arten leben anderswo weiter. Es gibt alle zehn Jahre neue Studien, deren Ergebnisse sich verbessern oder verschlechtern können. Für mich repräsentiert die Pflanze Zusammenleben und Vielfalt, eine Harmonie, in der so viele unterschiedliche Arten zusammenwachsen und atmen können.
ACC In Thüringen hast Du den Bärenanteil Deines Künstlerdaseins verbracht, doch zieht es Dich immer wieder nach Asien – mit denselben Themen? Was können wir in Europa von Asien lernen, was ist dort anders? Was war Deine bisher eindrücklichste asiatische Erfahrung?
GDA Ich war in Japan, China und Korea, allerdings nicht als Urlauberin. Jeder dieser zwei- bis dreimonatigen Aufenthalte lieferte eine Chance, die Welt besser zu verstehen. Ich fand dort so etwas wie Geschwister. Ich mag alte japanische und chinesische Geschichten und liebe traditionelle koreanische Musik, besonders wie sie heute auf moderne Art gespielt wird. Auch das Essen und die traditionellen Handwerkstechniken faszinieren mich. Ich könnte mir vorstellen, für lange Zeit dort zu leben und die Sprache besser zu lernen. In Korea war ich in einem Tempel. Dort, im Wald, habe ich mir selbst eine Karte geschrieben, die mich ein Jahr später postalisch erreichte. Darauf wünschte ich mir, langsamer und ruhiger zu werden.
ACC Von asiatischen Architekturen und Bauformen lässt Du Dich offenbar ebenfalls inspirieren. In der Ausstellung gezeigte Ornamente hast Du aus China mitgebracht. Sie stammen von verfallenen Gebäuden, um die sich niemand kümmert. Was reizt Dich generell am Ornament?
GDA Es stimmt, genauso wie ich Menschen beobachte, beobachte ich auch Gebäude – alte wie neue, ob in Asien oder anderswo. Es fasziniert mich, wie sich die Menschen derlei architektonische Verzierungen und nicht selten auch Kitsch erdacht haben. Es sind Symbole von Reichtum, Macht oder Status – eine Art Erkennungsmerkmal. In Pera nördlich des Goldenen Horns und der Altstadt von Istanbul gab man den Handels- und Apartmenthäusern sogar Namen. Manche Gebäude sind mit Wandkeramiken oder Mosaiken verziert, ähnlich der gestalterischen Spielereien in den Berliner U-Bahnhöfen. Ornamente und Wandkeramiken sind typische Merkmale bestimmter Epochen und stellen eine architektonische Signatur dar, die mit der Zeit oft verschwindet. Seit Jahren möchte ich die Ornamente der Tierköpfe vom Weimarer Schlachthofgebäude stehlen, um sie als zeitgeistliche Symbole zu bewahren. Bestimmte Muster, Geometrien und kulturelle Motive sind ein Teil von uns. Ohne diese Merkmale können wir unsere Geschichte nicht fortschreiben, uns nicht identifizieren. Viele sehen diese Schönheiten nicht oder finden sie uninteressant. Die Räumlichkeiten um dich herum verändern deine Persönlichkeit, Gedanken, Gefühle. Die Architektur um uns herum ist Teil unseres Menschseins.
ACC Neben der Ideen- und Formenvielfalt Deines Werkbestands verwendest Du nicht selten unterschiedlichste und ungewöhnliche Materialien: Warum betreibst Du einen derartigen Aufwand? Und warum ist z.B. das Material Zucker für Dich so interessant?
GDA Weil unterschiedliche Ideen und Konzepte auch unterschiedliche, jeweils passende Medien benötigen. Ich bin sehr neugierig, wenn es um Materialien geht. Neue Materialien bringen neue Erfahrungen – genau wie mein aktueller Zustand mit dem Arm.
ACC Zu dem wir gleich noch kommen ...
GDA Zurück zum Zucker: Ich war auf der Suche nach einem Material, das ich formen kann. Ein Material, das keinen Wert hat, weil es schmilzt. Man kann ein Zuckerobjekt nicht auf ewig in seiner Form bewahren. Ich begann 2024 damit, verschiedene Formen zu bauen und in Zucker zu gießen, in Baden-Baden, einer kleinen, hübschen Stadt wie Weimar. Alles bleibt dort über Jahre hinweg im gleichen Zustand. Irgendwie hat mich das berührt. Ich komme aus Istanbul, einer alten Stadt, die nie gepflegt wird. Niemand kümmert sich um die Geschichte. Die Hagia Sophia, die Blaue Moschee – all die Standards werden natürlich gepflegt, aber auch andere Kulturorte hätten Wertschätzung verdient: Ein altes Restaurant wie das Saray Muhallebicisi, ein Café wie das Markiz Pastanesi, eine Konditorei wie die İnci Patisserie, ein Kino wie das Emek, ein Treffpunkt für Künstler*innen und Intellektuelle wie Narmanlı Han, ein Opern- und Ballettzentrum wie das Atatürk-Kulturzentrum, ein Park wie Gezi – die Politiker*innen interessiert nicht, dass diese Orte Teil der Geschichte, des Kulturerbes sind. Diese beiden Kontraste möchte ich zusammenbringen, wenn ich Zucker als Material wähle.
ACC Du hattest vor Kurzem bei einem Unfall während des Zuckergießens Glück im Unglück, Verbrennungen zweiten Grades, Krankenhausbesuch. Du sagst, Du hast zu viele Dinge auf einmal machen wollen, solltest ruhiger, besonnener werden, wie Du es Dir im japanischen Tempel wünschtest, nicht so hektisch. Kann eine solch äußerst schmerzliche Verletzung Dir – als Signal – dabei helfen?
GDA Dieser Unfall mag klein erscheinen, hätte aber viel schlimmer ausgehen können. Am Tag des Unfalls habe ich mir gesagt: „Ich möchte ein neues Gesicht haben.“ Grund dafür war, dass die bislang KI-generierten Versionen von mir viel schöner waren als ich selbst, obwohl sie mir sehr ähnlich sahen. Am Ende brauchte ich kein neues Gesicht, aber an einer anderen Stelle meines Körpers, dem Unterarm, war eine Hauttransplantation nötig. Dieses Ereignis passt eigentlich sehr gut zum Weltschmerz, den ich in mir trage, den ich verändern, zur Ruhe bringen, verlangsamen will. Wir können die Politik, die uns in ihrem Kreislauf zu Ohnmächtigen macht, nicht dauerhaft mittragen. Sie macht uns krank. Diese heteronormativen Männergruppen, die uns ihre Regeln diktieren wollen, kann man langfristig nicht ertragen. Eine Hauttransplantation hat mir in gewisser Weise gutgetan. Metaphorisch gesehen ist diese neue Haut wie ein Neuanfang, Ab jetzt kann alles nur noch besser werden.
ACC Das klingt, also ob Du einen bestimmten Teil der Menschen hasst?
GDA Nein, ich hasse keine bestimmten Personen. Ich hasse die Werte, die die Menschheit sich selbst zwanghaft vermitteln möchte und sich dabei immer ins Zentrum stellt. Ich hasse ihren Egoismus, ihre Machtpositionen, Arroganz und Ignoranz.
ACC Das Umstülpen der Verhältnisse, Betrachten von der anderen Seite des Mikroskops, die Verwandlung, das Rollenspiel und Aufgebühnte könnte für uns alle – so mein Gefühl – nicht selten hilfreich sein. Du praktizierst es in Deiner Kunst an Dir selbst. Warum sind Metamorphosen so wichtig für Dich? Wofür stehen sie in Deinen Arbeiten?
GDA Ähnlich wie Cindy Sherman als Darstellerin vieler Ichs beschäftige ich mich mit dem Ich-Phänomen. Ich möchte alles in etwas Anderes verwandeln, das Potenzial einer Person oder Materie erkennen, alles von seiner ursprünglichen Funktion lösen oder umfunktionieren, um zu sehen, wie es sich in einem anderen Kontext anfühlt. Unser Hauptproblem ist, dass wir stets nach einer Version unseres Ichs suchen, die eigentlich keine wahre Version ist. Eine wahre Optimierung kann nur beginnen, wenn man sich in einen Zustand der Leere versetzt. Das japanische Butoh, ein Tanztheater ohne Form, sagt genau das: Wenn du etwas Anderes sein willst, musst du dich wie eine leere Hülle fühlen.
ACC Also warum suchst Du in Deiner Arbeit Ichundichs (Eine Zusammenarbeit mit Marcus Sternenbauer) nach einem anderen Ich?
GDA Dies ist in erster Linie eine performative Darstellung. Sie entstand, weil mir dieser theatralische Blick fehlte, die Möglichkeit, ein anderes Ich zu kreieren. Ich habe auch ein anderes Ich mit KI geklont. Wir hatten mich dafür so „trainiert“, dass ich ein anderes Ich zu schaffen imstande wahr. Diese KI-generierte Dilek ist fast wie ich, aber ist nicht ich. Im Video sollte diese andere, KI-generierte Version Dileks die anderen drei Versionen mener selbst kommentieren. Es ist verwirrend, es ist theatralisch und befasst sich einer alltäglichen Frage: Wer bin ich heute? Fragt man sich so etwas?
ACC Und geht es in Deiner Ausstellungseröffnungsperformance auch um Deine verschiedenen Ichs?
GDA Eher nicht. Es geht um uns Menschen als soziale Wesen, stets miteinander im Kontakt, verbunden. Deshalb erscheint mir eine metaphorische Darstellung im Rahmen der Eröffnungsperformance passend: Ich isoliere zwei Personen aus dem Raum. Eine der Performerinnen befindet sich in einem Glaskubus, die andere unterm Fußboden. Beide sind Teil eines Dialogs, aber sie können sich nicht berühren. Diese Situation wirft Fragen über die Wahrnehmung von Nähe und Distanz auf.

Diese Seite teilen