zum Inhalt
  • Galerie und Kulturzentrum in Weimar
  • So–Do 12–18, Fr–Sa 12–20
  • +49 3643 851261

Ausstellungen

More Planets Less Pain

Konstellationen künstlerischer Forschung

Ausstellung So., 06.03.2022–So., 22.05.2022

Foto: Markus Schlaffke, Bild: Markus Schlaffke

Lesedauer etwa 15:30 Minuten

Beteiligte

Francis Hunger, Edith Kollath, Lukas Kretschmer, Jeanne Lefin, María Linares, Barbara Marcel, Emanuel Mathias, Grit Ruhland, Markus Schlaffke, Katja Marie Voigt

Einführung

von Kuratorin Anne Brannys

Was weiß die Kunst? Auf welche Weise findet sie es heraus? Und wie gibt sie ihr Wissen weiter? Diese Fragen werden im Arbeitsfeld der künstlerischen Forschung aufgeworfen und sie stellen sich im Ausstellungsprojekt ›More Planets Less Pain. Konstellationen künstlerischer Forschung‹. Alle hier präsentierten Positionen wurden im Promotionsprogramm der Bauhaus-Universität Weimar entwickelt und beschäftigen sich mit drängenden Fragen der Gegenwart, und zwar gleichermaßen mit wissenschaftlichen wie künstlerischen Methoden und Ausdrucksweisen. Zum ersten Mal seit seiner Gründung 2008 werden Projekte der promovierten und promovierenden Künstler*innen aus Weimar gesammelt in einer Ausstellung präsentiert.

Die Frage, was das ist: Künstlerische Forschung und was damit zu bewirken sei, wird in der Ausstellung auf vielfältige Weise diskutiert. Denn diese Kunst ist nicht für die Kunst allein, sie nimmt ihre Fragen aus Lebensweltlichkeit und Wissenschaft und strahlt dorthin im besten Fall zurück. Nicht selten ergibt die Verwobenheit von Theorie und Praxis und auch von ethischen Fragen, Politik und Ästhetik ein Knäuel, das entwirrt werden will, ohne den Faden zu verlieren oder gar die Haltung.

Sich diesen Fragen zu stellen, darüber zu streiten, ist nicht immer einfach; weil wir in einer komplexen Wirklichkeit leben und mit den – oft auch überraschenden – Ergebnissen einer sehr jungen Disziplin konfrontiert werden. Und bei alldem soll auch das sinnliche Erleben nicht zu kurz kommen! Die Lust zu schauen, nachzudenken und zu diskutieren ist der Anlass für diese Ausstellung. Sie bietet den einzelnen Positionen viel Raum, um sich zu entfalten und den Besucher*innen die Möglichkeit, in die aufgespannten Universen einzutauchen oder auch den schwebenden Teilchen, die zwischen den Fixsternen schwirren, zu folgen. Jeder Position sind transparente Boxen zugeordnet, die – im Eingangsbereich gebündelt und im Ausstellungsbereich einzeln schwebend – kontextualisierende Materialien wie Arbeitsgeräte, Literatur, Assoziationen, Irrlichter, verknüpfte Arbeiten ebenso wie theoretische Werke der Künstler*innen präsentieren und so den Besucher*innen umfassendere Einblicke ermöglichen.

Die Flure und Nischen zwischen den Ballungsräumen der Werkpositionen werden bewusst freigehalten – doch nur für Augen und Ohren. Denn in ihnen sind verschiedene, speziell für die jeweilige Situation komponierte Düfte installiert, deren Erfahrung im Ausstellungsrundgang einen seltenen sensorischen Kontext aufschließt und den übrigen Wahrnehmungs- und Denkprozessen eine kurze Pause einräumt. Im Erleben lernen, im Tun begreifen: Durch Zeichnen, Bauen, Fotografieren, Riechen, Programmieren, durch Glasblasen, Rubabspielen, Drucken, Weben, Löten, Denken. Lernen, während eine Ausstellung gemacht wird, besucht wird und durch eine Begegnung mit den Künstler*innen: Die Werktexte dieses Faltblatts geben Einblick in die Intention und Herangehensweise der Künstler*innen und sind von diesen selbst verfasst.

Wenn wir schließlich die Bild- und Erfahrungswelten der forschenden Künstler*innen wahrgenommen und uns im Gedankendickicht ihrer Arbeiten produktiv verlaufen haben mit dem geteilten Erkenntnismoment als Ziel, sind wir aufgefordert, eine eigene Haltung zu finden: Sinnlichkeit oder Intellekt? Elfenbeinturm oder Alltagsgeschehen? Aktivismus oder Ästhetik? Hohe Luft oder schwere See? Mehr Planeten oder weniger Schmerzen? Oder zur Abwechslung einmal alles, bitte?

Erstmalig seit seiner Gründung 2008 stellen zehn promovierte und promovierende Künstler*innen des Promotionsprogramms der Bauhaus-Universität Weimar gemeinsam aus und befassen sich mit der Frage: Was ist künstlerische Forschung und was kann sie bewirken? Forschung und Wissenschaft, Kunst und Kultur sind einende zivilisatorische Kräfte, mit denen sich die Weimarer Doktor*innen und Doktorand*innen identifizieren. Per solidarischem Miteinander stellen sie sich nicht aufschiebbaren, komplexen Fragen unserer Gegenwart, in die man eintauchen kann – zu Zeiten, in denen der Sinn von Forschung mitunter angezweifelt wird. Die von 25 Veranstaltungen begleitete Doppelausstellung bekennt sich zur forschenden Kunst und künstlerischen Forschung. 16 Kunstwerke auf 300 Quadratmetern im ACC und 17 Kunstwerke auf 730 Quadratmetern in der Kunsthalle Erfurt, darunter Film-, Raum- und Audioinstallationen, Objekte, Skulpturen und Fotografien, Zeichnungen, Modelle, Plakate und Duftdesigns, schweißen zum ersten Mal seit 25 Jahren Kunsthalle Erfurt und ACC wieder in einem gemeinsamen Projekt zusammen. Und die Sache hat ein Nachspiel: Vom 30. Juni bis 3. Juli 2022 findet erstmals in Deutschland, nämlich in Weimar, die internationale Konferenz der Society for Artistic Research (SAR) statt. Ihre 13. Ausgabe namens Der Stand der Kunst in der künstlerischen Forschung wird von der Bauhaus-Universität Weimar veranstaltet (www.sar2022.uni-weimar.de).

Welche Kunst steckt also hinter Doktorarbeiten mit Namen wie es könnte alles auch ganz anders sein // Zur Utopie einer vorurteilsfreien Gesellschaft. Untersuchungen in Theorie und künstlerischer Praxis // Eine Enzyklopädie des Zarten // An den Rändern des Feldes. Über die Anwesenheit des Forschers in seinem Material // Ornament und Subjekt // Szenarien autonomer Fremdbestimmung // Folgelandschaft. Eine Untersuchung der Auswirkungen des Uranbergbaus auf die Landschaft um Gera/Ronneburg // Die Form der Datenbank. Genealogien, Operationalitäten und Praxeologien relationaler Datenbanken in Ost und West // Respiration Essays. Von den kontingenten Agenzien des Atems der Kunstwerke // Die Rekonstruktion des Menaka-Archivs. Navigationen durch die Tanz-Moderne zwischen Kolkata, Mumbai und Berlin 1936-38 und Ciné-Cipó. Cine-Liana: Ecologies of the Expanded Garden. Decolonial Thinking With And Through Moving Images?

Hinein also in die Materie … vorher aber noch ein paar Anmerkungen zum Ausstellungstitel:
Als Wilhelm Herschel im März 1781 den Uranus entdeckte, wurde unser seit der Antike aus sechs Planeten bestehendes, altbekanntes Sonnensystem um einen siebten erweitert. Dieser siebte Planet war dabei der erste, der nicht mit dem bloßen Auge wahrgenommen werden konnte, der nicht einfach vorhanden war, sondern ent-deckt werden musste (oder konnte). Und dies sogar eher zufällig, war der Autodidakt Herschel mit seinem selbst gebauten Spiegelteleskop doch gerade dabei, die Entfernung zweier Sterne in den Zwillingen zu vermessen, als ihm als Lichtpunkt der Uranus auffiel. (siehe Fußnote1)

Es ist davon auszugehen, dass zu dieser Zeit einige Personen auf mehr oder weniger großen und mehr oder weniger berühmten Sternwarten den Himmel mit teleskopischen Blicken abtasteten.
Einer davon war der enttäuschte Mathematiker und Naturforscher Georg Christoph Lichtenberg, der in sein „Sudelheft“ anlässlich der Entdeckung folgenden schönen Gedanken festhält: „Ein untrügliches Mittel gegen das Zahnweh zu erfinden, wodurch es in einem Augenblick gehoben würde, möchte wohl so viel wert sein und mehr, als noch einen Planeten zu entdecken.“ (siehe Fußnote 2) Das Dilemma des nach den Sternen greifenden Menschen, dessen Streben sich schnell ändern kann, wenn etwas sehr Dringliches die eigene Haut oder das Darunter angreift, ist hier gefasst.

Die in dieser Ausstellung versammelten Positionen setzen sich auseinander mit Themenkomplexen, die die Künstler*innen und auch uns unmittelbar betreffen und die für Außenstehende dennoch mitunter wie die Beschäftigung mit fernen Sternen anmuten können. Die mehr oder weniger starke Vermischung von Theorie und Praxis, Kunst und Wissenschaft lässt die geistige Umgebung und die komplexen Hintergründe für die sinnlichen Erscheinungen der Kunstwerke wichtig werden. So sind die Besucher*innen eingeladen und auch gefordert, sich auf die gedanklichen und sinnlichen Universen der einzelnen Arbeiten einzulassen und in den Dialog mit künstlerischen Forschungsprojekten zu treten. Und sich darüber hinaus mit dringlichen Fragen und Phänomenen unserer Zeit auseinander zu setzen. Wenn dies versucht wird, gehen die Erscheinungen, die Projektionen, die Oberflächen unter unsere Haut und betreffen uns wie ein unabweisbarer Schmerz, gegen den noch kein Mittel gefunden ist.

Wir finden die Episode um Lichtenberg und Uranus in Hans Blumenbergs Sammlung Die Vollzähligkeit der Sterne übertitelt mit Mehr Planeten oder weniger Schmerzen? und eingeleitet mit der Frage, was denn Glück sei. „Welches Glück, daß es keine für die Definition von Glück zuständige Weltbehörde gibt! Es ist doch schon schlimm genug, wie verbreitet der Aberglaube ist, es müsse doch für eine so gemeinhin von Menschen gewünschte Sache eine Definition geben. Wie beim Frieden, den als Abwesenheit des Krieges zu bestimmen, seinen dezidierten Anhängern als zu wenig erscheint, ist es auch mit dem Glück gerade seinen 'Freunden' nicht gelungen, sich nicht der Untertreibung schuldig zu machen: Epikur und seine Gartenschule entschieden sich dafür, zum Glück die Abwesenheit des Schmerzes genügen zu lassen.“ (siehe Fußnote 3)

Machen mehr Planeten glücklich? Müssen wir unser Glück auf einem anderen Planeten suchen? Und was würde das für diesen bedeuten? Ob der Uranus ein Ausweichplanet für diesen müden, ausgehöhlten, immer traurigeren Planeten ist, auf dem wir unfriedlich miteinander leben? Immerhin schlägt Paul B. Preciado vor, dort Quartier zu beziehen (siehe Fußnote 4), denn der Uranus ist der Symbolhimmelskörper für den Wandel, für den Übergang, für das Unvorhergesehene und Unordentliche, für die Freiheit, anders denken und leben zu dürfen.

Vielleicht müssen wir unser Augenmerk statt auf das Glück eher auf das Unglück richten, das uns umgibt und das wir vielleicht auf der Suche nach dem kleinen, eigenen Glück mit verursachen?

Francis Hunger — The Data Proxy, 2021. Videoperformance, 6 Vlogs, circa 60 min, Website.
Der Data Proxy ist in einer fiktiven alternativen Gegenwart von Beruf Berater. In diesem alternativen Szenario wird von Menschen erwartet, dass sie sich am System der Datenproduktion beteiligen, indem sie monatlich eine Mindestmenge an Daten erzeugen. Die Datenbehörde, eine Regierungsstelle, reguliert den Datenmarkt. Sie wacht über die Aktivitäten des Data Proxy, welche Datenberatung, Datenerstellung und manchmal auch Datenmanipulation, Datenvermittlung und Spekulationen im Auftrag Dritter umfassen.
In diesem Szenario bewirbt der Datenproxy seine Dienste durch eine Reihe von sechs Vlogs auf YouTube und durch die eigens erstellte Website www.dataproxy.biz. Die sechs Episoden, die aller vierzehn Tage veröffentlicht wurden, folgen einem größeren Handlungsbogen und stellen weitere Charaktere vor, welche die Geschichte vorantreiben. In jeder Episode werden die Arbeit und die Werkzeuge des Data Proxys erörtert und so wird ein lebendiges Szenario entwickelt, wie sich unsere heutige Welt entwickeln könnte, wenn die Datenproduktion obligatorisch würde.
Es handelt sich jedoch nicht um einen dystopischen oder düsteren Blick in die Zukunft, sondern um eine erkundende Spekulation über die künftige Materialität und Qualität von Daten, wenn Daten zur neuen Normalität werden. Das Kunstwerk zielt auf eine Auseinandersetzung mit datenbezogenen Themen wie Datenschutz, Big Data und Künstlicher Intelligenz und basiert auf einer medientheoretischen Erkundung, in der die Herkunft und Form von Datenbanken erforscht wurden. Ausgangspunkt war die Frage »Was ist eine Datenbank und warum?«
 www.irmielin.org / www.dataproxy.biz

Lukas Kretschmer — Glühlampenportal, Bild 3: Im Revuetheater, 2019. Kapa, Pappe, Papier, Folie, Elektrik.
Das Bauteil ›Glühlampenportal‹ gehört zu einem fiktiven Revuetheaterbau, irgendwo in Deutschland, 1929. »Während des Vorspiels füllt sich das Revuetheater, das Publikum nimmt Platz, Saaldienerinnen servieren Getränke, Unterhaltungen werden geführt, man stößt an. [...] Der Vorhang der Revuetheater-Bühne öffnet, die Show beginnt. Magnesium-Blitze, Nebelschwaden, Konfetti, Tanz und Ausschweifungen: Lea (als Lisa) in China, eine Welt voller Zauber eröffnet sich dem raunenden und staunenden Publikum. Als Figuren durch ihr Verhalten während der Show insbesondere einzuführen: Gauleiter, Parteifreunde, Student*innen, Journalist, Trinker, Kriegsveteran.« (Szenenbeschreibung zu Franz Lehár: ›Das Land des Lächelns‹, Essen 2019).
Als Bauteil des Bühnenbildes der Essener Inszenierung von Franz Lehárs ›Das Land des Lächelns‹ am Aalto-Theater in der Regie von Sabine Hartmannshenn verwirklicht das ›Glühlampenportal‹ die Spielsituation des Theaters auf dem Theater, als Modellteil macht es das Konzept der Inszenierung buchstäblich wahrnehmbar. Auf einer tatsächlichen Theaterbühne wird ein zweites, deutlich älteres, aber ebenso wirkliches Theater errichtet, auf dessen »Bühne auf der Bühne« Franz Lehárs berühmte Operette ›Das Land des Lächelns‹ vor dem Hintergrund ihrer Entstehungszeit erfahrbar wird. Der Gestaltungsraum des Bühnenbildners ist hier Ausgangspunkt für die Entwicklung einer konsistenten Argumentation zur Lesbarkeit eines gegebenen Operettenstoffes.
Das Bauteil an sich verweist – wie sein ebenfalls leuchtender Zwilling im Originalmaßstab am zweiten Standort der Ausstellung in Erfurt – auf das Gleiche: Die sinnliche Konkretion des Modellteils ist Teil jenes Apparates, der notwendig ist, um das Konzept in genau ein und demselben, exakt beschriebenen Möglichkeitsraum nicht nur sichtbar, sondern auch lesbar zu machen.
www.lukaskretschmer.de

Edith Kollath — Addressable Volume, 2018. Fünfkanalige Videoinstallation, 4:45 min & Findling #7, 2017. Gesteinsspalten, Messingscharniere.
In der Videoarbeit ›Addressable Volume‹ verleihe ich den Luftkörpern unseres Atems für einen Moment Präsenz. Ich konturiere die aus den Körpern der Performer*innen ausströmende Atem/Luft durch gläserne Hohlkörper, die sich ausdehnen und unter dem anschwellenden Druck des Atems schließlich in unzählige Partikel zerplatzen. Dabei wird ein je individuelles Gasgemisch freigegeben, das sich ausdehnt und mit der Umluft verbindet.
Ein Vorgang, der die undichten Grenzen unserer Körper und unsere Verbundenheit portraitiert: Wie weit dehnen sich unsere atmenden Körper aus? Wie berühren sich mein und dein Atemleib? Der Atem zwingt uns in eine rhythmische Balance zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Wir nehmen auf und wir geben ab und sind jenseits aller Worte mit allen lebenden Wesen auf dieser Welt verbunden. Ich nehme deinen Atem in mich auf. Du bist in mich inspiriert. Und ich atme mich in dich aus.
Als ›Findling‹ werden Steine bezeichnet, deren materielle Zugehörigkeit zu lokalen Gesteinsmassen nicht identifizierbar ist. Ich falte sie gewaltsam entlang ihrer verborgenen Geometrien auf und lege Material frei, das erstmals seit Jahrmillionen in Berührung mit unserer Atmosphäre kommt. Im Moment der Öffnung wird das Innere sofort zu einer neuen Oberfläche und widersetzt sich der Preisgabe seines Geheimnisses. Mit Scharnieren verbinde ich die Steinspalten wieder und schaffe ein Flexibilitätsvermögen, das an die geodynamischen Prozesse ihrer Entstehung erinnert.
www.edithkollath.com

Jeanne Lefin — Dürer-Hochzeit, 2019. Digitalprint auf Canvas, 67  ×  49 cm.
Das aufgrund seiner Hybris berühmt gewordene Selbstportrait von Albrecht Dürer, ›Selbstbildnis im Pelzrock‹ von 1500, steht in der Ikonographie von Jesus Christus und setzt den Künstler an die Stelle Gottes. In der ›Dürer-Hochzeit‹ findet sich dieses Motiv ornamental aufgelöst; es ist zur Tapete degradiert und in den Hintergrund gerückt. Gleichzeitig erhält die Fläche bildkompensatorisch erneut einen sakralen Charakter.
Die ›Dürer-Hochzeit‹ greift zudem ein Caritas-Motiv auf. Die entblößte Brust steht in der Tradition eines vom Körper eigentümlich abgetrennten Körperteils in den Caritas-Darstellungen vom Mittelalter bis in die Renaissance. Sie verweist auf die Ambivalenz zwischen christlicher Körperfeindlichkeit, Huldigung weiblichen Vermögens als Ernährerin sowie sexueller Latenz. Während die Brust in tradierten Caritas-Darstellungen oft abstrahiert und stilisiert als marmorhafte Kugel in Szene gesetzt wird, sind hier die Spuren des Saugens noch sichtbar.
Diese reale, exponierte, in den Bildmittelpunkt gerückte Brust blickt zusammen mit dem Kind nach vorne; sie werfen einen ironischen Blick auf Gesellschaft und ihre patriarchal-hegemonialen Strukturen. Das Selbstportrait von Albrecht Dürer bildet dabei im doppelten Sinne den Hintergrund: als Zurücksetzung einer durch Männer geprägten Kunstgeschichte (in den Hintergrund gerückt); ebenso wie als Vorbild einer Selbstsetzung und Autonomisierung der Kunst.

María Linares — Video Portraits, 2008. Videoinstallation & Confident, 2021. Porzellantassen, Requisite für ein Videoprojekt.
Für die Videoinstallation ›Video Portraits‹ habe ich in einer Straßenbefragung die jeweils negativsten Vorurteile und Klischees gegenüber »anderen« Nationalitäten gesammelt und herausgefiltert. Auf dieser Basis stellte ich mit einem Befragungsteam Skripts für Rollen zusammen, die von einer Drehbuchautorin lektoriert und zugespitzt wurden, sodass jede einzelne Rolle der Verkörperung sämtlicher negativer Vorurteile über eine spezifische Menschengruppe entsprach. Anschließend bat ich Amateurdarsteller*innen aus den jeweiligen Herkunftsländern oder Gebieten, die Skripts vor der Kamera so zu spielen, als sei es die Geschichte des eigenen Lebens und als würden sie sich selbst vor der Kamera vorstellen.
Für das Projekt ›Confident‹ kooperierte ich mit dem Fußballspieler Tom Niedermeyer. Er erzählte mir, dass viele seiner Spielkameraden dem rechten politischen Spektrum angehören und Hooligans oder
Pegida-Anhänger sind. Als ich ihn fragte, wie es sein kann, dass er als schwarzer Südafrikaner mit ihnen im Team spielt, antwortete Tom mit einem Lachen im Gesicht: »Für sie bin ich der Tom.«
Die Tassen des Projektes ›Confident‹ sind als Requisite für ein Video entstanden, in dem Tom und einer seiner Teamfreunde rechter Gesinnung im Gespräch von dem erzählen, was sie im Sport teilen und was sie verbindet, während sie aus einer ›Confident‹-Tasse trinken.
Der Name des Projektes leitet sich aus den sogenannten Confidents ab, den gepolsterten Doppelsesseln, die während des Zweiten Kaiserreichs in Frankreich entworfen wurden: Sessel für zwei Personen, die durch die (von oben betrachtet) S-Form Nähe und Vertraulichkeit suggerieren. Es geht mir darum, bestehende Beziehungen zu visualisieren, die von Nähe und Vertrautheit zwischen Black, Indigenous and People of Colour (BIPoC) und Rassist*innen zeugen.
www.marialinares.com

Emanuel Mathias — An den Rändern des Feldes, seit 2017. Performance, Installation.
Der Künstler kommt ins Institut, weil er die Beobachter*innen beobachten möchte. Er arbeitet versuchsweise, denkt in Möglichkeiten, macht Vorschläge. Nach einer Weile spricht er wie sie, er denkt wie sie, er nutzt ihre Sprache. Er ist geprägt von ihrem Wissen und ihrer Sichtweise auf die Welt der Primaten. Dabei greift er gerne in ihre wissensbildenden, wissenschaftlichen Prozesse ein, spielerisch, neckend und spiegelnd. Er möchte mit dem  Anderen eine Beziehung eingehen.
Sie sagen ihm nach einer Weile: »Wir sind deine Affen« und lachen dabei laut. Für den Künstler ist es ein Durchbruch. Aber er hat auch Zweifel. Er fragt sich, wie er sich in diesem unbekannten Terrain ausdrücken kann, um verstanden zu werden. Er beginnt darüber nachzudenken, wie es sich anfühlt, der Beobachter des Beobachtenden zu sein.
Es bedeutet, jemanden anzuschauen und gleichzeitig sich selbst anzuschauen. Er fängt an, Notizbücher wie sie zu nutzen, Daten wie sie zu sammeln, ihnen Spitznamen zu geben und ihre Werkzeuge zu verwenden. Er packt in seinem Atelier Kisten mit seinem und ihren Werkzeugen und Habseligkeiten, um in den Wald zu gehen.
In eine der Kisten schmuggelt er ein Buch von Donna Haraway, mit dem Titel ›Primate Vision‹. Es beschreibt, wie eine Beziehung zwischen Menschen und Primaten aussehen könnte. In seiner Vorstellung liest er gemeinsam mit ihnen dieses Buch, während sie am Lagerfeuer sitzen, in der Nähe der Nester der Tiere, um dabei über das Verhältnis von Primaten,  Wissenschaftler*innen und Künstler nachzudenken.
Wie bewegt sich eine Affenforscher*in durch die  Welt? Ausgehend von Recherchen in den persönlichen Archiven von Primatolog*innen soll der Forscher als Individuum in seinem Forschungsmaterial sichtbar werden. Die Arbeit möchte dabei die Forscher*innen in ihrer stetigen Pendelbewegung zwischen subjektiver und objektivierender Wahrnehmung beschreiben. Es entsteht ein assoziatives Gegennarrativ einer wissenschaftlichen Erzählung.
www.emanuelmathias.com

Barbara Marcel — Golden Tone, 2018–2021. Vierkanal-Videoinstallation, ca. 120 min.
Was fangen wir an mit einem Loch im Tal? Wohin können wir gehen, wenn die Erde nicht mehr hält? Bleiben die Landschaften fernab der Städte und ihr verführerisches Versprechen von Einsamkeit auch in Zeiten des urbanen Zerfalls unwiderstehlich? Was können wir in diesen Ruinenlandschaften lernen und verlernen? Wie kann man über und unter solch unsicherem Boden wandern?
Die Filminstallation ›Golden Tone‹ entspringt einer Recherche über die historische Kulturlandschaft des westlichen Harzes in Deutschland, in der viele der Bergbautechnologien der Mineralbodengewinnung zuerst entwickelt und dann in die ganze Welt exportiert wurden. Neben ihrer essayistischen Form reflektiert die Arbeit die Überschneidungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieser von Menschen zerfurchten Landschaft durch die besondere Geschichte der Zucht, der Ausbildung und des Handels von Kanarienvögeln in der Region.
In einer Videoassemblage aus Händen und Maschinen, Silber und Serinetten (Vogelorgel), verseuchten Schwermetallhügeln und fallenden Fichten, touristischen Touren und intimen Interviews, enthüllt die ikonische Landschaft des deutschen Harzes allmählich ihre vielen hybriden Schichten.
www.barbaramarcel.com.br

Grit Ruhland — Kit: Zufallsgestützte Landschaftsbeobachtung (Revier Königstein), 2020. Beobachtungsprotokolle & Geigerzähler #1, 2014/15.
Über mehrere Jahre hinweg habe ich in der ehemaligen Uranbergbauregion in Thüringen und Sachsen Landschaftsbeobachtungen angestellt, wobei Ort, Zeit und Dauer der Beobachtungssitzungen zufällig generiert wurden. Die Beobachtungen hielt ich in Protokollen auf Schriftrollen fest. Das zugrundeliegende Zufallsverfahren wird in ›Kit: Zufallsgestützte Landschaftsbeobachtung (Revier Königstein)‹ offengelegt. Auf einem Kartenausschnitt des Gebiets markiert der Wurf einer blind gezogenen Nuss den Beobachtungsort und zugleich das Datum. Die Anfangszeit der Beobachtung wird durch zufällig gezogene Baumscheiben ermittelt, auf denen die Uhrzeiten eingetragen sind. Die Dauer der Beobachtung in Stunden ermittelte ich mit einem Würfelwurf.
Die QR-Codes, die in den Kartensegmenten zu sehen sind, verlinken auf Hintergrundinformationen, die wie ein Pilzgeflecht unter der Oberfläche der Karte verborgen liegen. Aber sie verweisen auch auf Zerfallsprozesse von Information: In wenigen Jahren werden die dahinterstehenden Fundorte im Internet vielleicht schon nicht mehr auffindbar sein. Wenn ein langlebiges radioaktives Element noch nicht einmal eine Halbwertszeit absolviert hat, wird bereits soviel Zeit vergangen sein, dass die Zeichen, mit denen wir heute radioaktiv belastete Orte markieren, wohl schon lange nicht mehr verstanden werden.
Auch die Bildsprache der Landkarte selbst wird in der Zukunft wohl anders gelesen werden, als wir dies heute tun. Als Kit für eigene zufallsgestützte Beobachtungen ließe sie sich mit den beigegebenen Zufallswerkzeugen aber auch weiterhin verwenden. ›Geigerzähler #1‹ ist das Update dieser Methode.
Der in einem blattförmigen Rahmen eingelassene Geigerzähler misst die Umgebungsaktivität. Die Zufälligkeit der Zerfallsprozesse, die durch das charakteristische Knacken hörbar gemacht werden, wurden in einem Python-Script verarbeitet und sind Teil einer elektronischen Ziehung.
www.folgelandschaft.org

Markus Schlaffke — Kabul Klavier, 2022. Rauminstallation.
Die Fotografien von zerstörten Instrumenten in den Räumen des afghanischen Rundfunks, die nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 bekannt wurden, sind Anlass für eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir solche Konfliktbilder betrachten. Im September 2021 wurden die zerstörten Instrumente, darunter zwei Konzertflügel, von einem britischen Journalisten fotografiert und auf Twitter geteilt. Die Taliban hatten aber nie die Verantwortung für den Zerstörungsakt übernommen.
Die Art und Weise, in der die Instrumente unkommentiert, aber unübersehbar, für eine weltweite Öffentlichkeit drapiert waren, versetzt uns gezwungenermaßen in einen voyeuristischen Modus, in dem wir, wie Susan Sontag es ausdrückt, »das Leiden anderer betrachten«. Das Bild der zerstörten Klaviere ist nach ikonografischen Gesetzen konstruiert und gehorcht den Regeln einer Ästhetik des Leidens, welche unsere Kategorien des Ethischen und Ästhetischen provoziert. Dieses Bild beunruhigt einige unserer ideologischen Gewissheiten im Afghanistankonflikt. Das Klavier in Kabul soll aufrütteln, verschrecken oder zum Handeln motivieren und erfüllt in seiner Ambiguität einige der Erwartungen, die wir gemeinhin an Kunstwerke richten.
Angesichts dieser Situation frage ich mich, ob das ikonoklastische Arrangement im Kabuler Rundfunkstudio in Wirklichkeit tatsächlich ein Kunstwerk ist – ein subversiv geplantes autodestruktives Bild, das in seiner ganzen ikonografischen Komplexität wahrgenommen werden sollte und das von seinen anonymen Autoren darauf angelegt war, genau zu diesem Zweck geteilt und verbreitet zu werden.
www.schlaffke.com

Katja Marie Voigt — Weltatlas fremdbestimmter Lebenszeit, 2022.
Der ›Weltatlas fremdbestimmter Lebenszeit‹ fokussiert auf den Nebeneffekt subjektiver Weltdeutungen, der jedem Kartenwerk inhärent ist, das den Anspruch erhebt, die Welt abzubilden. In vierzehn Kartographien werden subjektive Wahrnehmungen von objektiv durchquerten Wegestrecken sowie zugehörige Weltdeutungen zusammengestellt, die während einer besonders angelegten künstlerischen Expedition auftauchten. Die Expedition zeichnete  sich dadurch aus, dass  eine Expeditionsteilnehmerin, die Künstlerin selbst, nicht selbständig und autonom über ihre tägliche Zeitplanung verfügen konnte. Vielmehr entwarf eine fremde Person für sie ein starres Zeitkorsett, in das sie eingezwängt wurde und dem sie sich komplett unterwarf. Vierzehn Tage lang wurde jeden Morgen ein persönlicher Tagesplan zugeschickt, der sodann, im Modus zeitlicher Fremdbestimmtheit, ausgeführt wurde. Daraus resultierten Aktionen und Wege durch den Stadtraum, die unter der besonderen Prämisse fremdbestimmter Lebenszeit durchgeführt wurden.
Besondere Reliquien, die während der Expedition über den »Fremden« (welcher die Zeit in den Händen hielt) gesammelt wurden, sind in Glaskästen im Leseraum ausgestellt. Besucher*innen sind eingeladen, sich auf die spannende Reise in die Welt dynamisch gezeichneter Erlebniskonturen zu begeben und einzutauchen in ihre eigene Welt fremdbestimmter Lebenszeit. www.katjamarievoigt.com

1: Vgl. https://www.deutschlandfunk.de/die-entdeckung-des-uranus-100.html, abgerufen am 17.03.2022.
2: Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, hrsg. v. Wolfgang Promies, Band II, 173.
3: Hans Blumenberg: Die Vollzähligkeit der Sterne, Suhrkamp 2011, 187.
4: Vgl. Paul B. Preciado: Ein Appartement auf dem Uranus, Suhrkamp 2020.

Diese Seite teilen