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Der argentinische Fotograf und visuelle Geschichtenerzähler Alejandro Kirchuk wurde 1987 in Buenos Aires geboren. Seine Arbeit konzentriert sich auf persönliche dokumentarische Langzeitprojekte in Argentinien und Südamerika.
Buenos Aires (auf Deutsch: Gute Luft) ist eine der wichtigsten wirtschaftlichen und kulturellen Metropolen Lateinamerikas. Alejandro Kirchuk wuchs im Stadtteil Palermo auf, hat sein ganzes Leben hier verbracht und startete 2014 ein Projekt über den Fluss Riachuelo (der sich am südlichen Rand der argentinischen Hauptstadt entlangschlängelt und sie von der Provinz trennt), angeregt durch die Nachricht, dass das Riachuelo-Becken vom Blacksmith Institute zu einem der zehn am stärksten verschmutzten Orte der Welt gekürt worden war.
Viele Industriebetriebe entsorgen ihre Abfälle in Nebenflüsse, die in den Riachuelo fließen. In der Mündung des Flusses weist das Wasser sehr hohe Konzentrationen an Blei, Arsen und Cadmium auf. Diese Verbindungen von Schwermetallen sickern über das Grundwasser in die Brunnen, von denen die Menschen ihr Trinkwasser beziehen. Mehr als 1.500 Industriebetriebe, hauptsächlich Gerbereien, Chemiefabriken und andere Fabriken, verschmutzen den Fluss. Ein weiteres Problem für das Flussgebiet sind illegale Mülldeponien. Bei der Verbrennung des Mülls entstehen Gase, die giftige Substanzen enthalten, die für die Menschen in der Umgebung gesundheitsschädlich sind. Ursprünglich sollte die Sanierung des Riachuelo-Beckens 2025 enden. Sie wird sich jedoch immer weiter in die Zukunft verzögern.
In seiner künstlerisch-fotografisch-dokumentarischen Recherche beobachtet Kirchuk das Leben der Menschen an und mit dem Fluss. Seine Auseinandersetzung führt ihn zugleich in die Anfangsgründe der Nation Argentinien. Schon Jorge Luis Borges fragte: «War es entlang dieses verschlafenen und schlammigen Flusses, dass die Schiffe kamen, um mein Vaterland zu entdecken?» Zugleich ist es eine Recherche, die das Verhältnis zwischen Mensch und Natur offenlegt: Eine Bestandsaufnahme der zwiespältigen Rolle des Riachuelo im Leben der Menschen, eine Studie über jene, deren Alltag durch den Fluss dominiert wird, die auf ihn angewiesen sind und gleichzeitig von ihm bedroht werden, sich aber dennoch mit ihm arrangieren müssen, eine Wertschätzung der Mühen und des Leids der Flussanwohner*innen, eine Hommage an deren Lebenskraft.
«Der Riachuelo umgibt die Stadt, er ist allgegenwärtig und doch unsichtbar», so Kirchuk. «Er ist ein Synonym für die Hässlichkeit, für den Teil von uns, den wir immer zu vermeiden versuchen.» Mit einer Mittelformatkamera ausgestattet begab er sich auf den Weg von der Quelle bis zur Mündung des Flusses. In der Provinz Buenos Aires, wo der Fluss unter dem Namen Rio Matanza entspringt und das Wasser noch sauber ist, folgte Kirchuk ihm nach Osten, in die Stadt selbst, wo er eine riesige Schleife um ein Gebiet bildet, das als Meandro de Brian (Brians Biegung) bekannt ist, den größten Slum von Buenos Aires mit etwa sechzigtausend Menschen. Während seiner Recherchen änderte sich Kirchuks Sicht weise: Wo er früher nur Verschmutzung und Verfall gesehen hatte, entdeckte er nun Details und entwickelte eine Sensibilität für die Wechselwirkungen zwischen Fluss und Menschen: Bewohner*innen, die täglich den Fluss überqueren, um an seinen Ufern Müll zu sammeln und zu verkaufen, die Trostlosigkeit radikal ausgebeuteter urbaner Landschaften, die Schönheit des prismenhaften Schimmerns schlammigen Wassers.
Elf Bewohner*innen eines Slums namens Isla Maciel überqueren auf dem Weg zur Arbeit in einem Ruderboot den Fluss, im Hintergrund verlieren sich riesige Strommasten im Nebel, den schon Edmundo Rivero in seinem berühmten Tango Niebla del Riachuelo (Nebel des Riachuelo) aus den 1930ern beschrieben hat, seither ist der Fluss legendär für seine Tristesse:
«Nebelverhangener Hafen, wo Boote vor sich hinsiechen / Festgemacht, wo sie für immer bleiben werden / Schatten, die sich in der Nacht voller Schmerz ausdehnen / Schiffbrüchige der Welt, die ihr Herz verloren haben.» (…) «Kohleschiffe / Die niemals auslaufen werden / Düsterer Friedhof der Schiffe / Die beim Sterben dennoch träumen / Dass sie zum Meer aufbrechen müssen.»
Angesichts zweier kleiner Zwillingsschwestern mit gleich langen Zöpfen und rot karierten Kittelschürzen auf ihrer täglichen Flussroute zur Schule, einer weiteren Fotografie aus Kirchuks Schau, mag man sich bei dem Gedanken ertappen, welches Schicksal die beiden wohl ereilen wird, wenn sie am Fluss leben bleiben. «Ich hätte nie gedacht, dass der Riachuelo uns töten könnte», sagte eine Frau namens María Inés Marecos zu Kirchuk in einem Filminterview, «Das denkt man nicht. Man denkt vielmehr: Ich habe einen Ort gefunden, an dem ich mit meinen Kindern leben kann.» Auf einem anderen Fotomotiv ist eine Frau abgebildet, die am Flussufer, eingehüllt von Rauchschwaden, Müll verbrennt. Ein drittes Bild zeigt wieder Kinder — spielend auf dem eingebeulten Dach eines am Flussufer deponierten PKWs.
Auf einem seiner Streifzüge gelang Kirchuk auch die Draufsicht auf einen Ausschnitt der Wasseroberfläche des Riachuelo — ein pechschwarzes Fotoquadrat. Die sämigen Ölschlieren und der im Fluss strömende Unrat sprechen ihre eigene Sprache, wenngleich jenes nächtliche Flussporträt nicht einer besonderen Ästhetik und Schönheit entbehrt: Mit zusammengekniffenen Augen könnte dieses Bildnis auch ein abstraktes Gemälde oder eine Sternwartenaufnahme aus der Himmelsbeobachtung der Milchstraße sein.
Kuratiert von: Robert Sorg (Weimar)
Beteiligte
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Erste Eindrücke
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Wir bedanken uns.
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Förderer
Förderkreis der ACC Galerie Weimar
Thüringer Wasser-Innovationscluster Zukunftscluster des Bundesministeriums Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR)




