Vier Fäuste und kein Halleluja — Mephisto Revisited
Internationale Gruppenausstellung mit Piotr Szyhalski (PL/US), Thomas Hammelmann (DE), Edith Kollath (DE), Mischa Kuball (DE), Konzept: Bernd Kauffmann
Do., 01.05.2025–So., 14.09.2025
Lesedauer etwa 15:03 Minuten
Sieben Monate nach Ankunft in Weimar bezieht Goethe am 24. Juni 1776 im heutigen ACC sein erstes eigenes Weimarer Quartier. Und begießt zwei Tage später auf seiner Einzugsparty die Anstellung am Weimarer Hof mitsamt seiner Einführung ins Geheime Consilium mit 100 Flaschen Champagner. Hier vom Burgplatz aus lebt Goethe sich ein in den Weimarischen Kreis, führt Gespräche mit Christoph Martin Wieland, dessen Weine er im eigenen Weinkeller einlagert, und Johann Gottfried Herder, der kurze Zeit nach ihm in Weimar eintrifft. Hier nimmt die berühmteste Liebesbeziehung der klassischen Literatur ihren Lauf, als Goethe im November 1776 Charlotte von Stein kennenlernt. Hier setzt er seine lebenslange Beschäftigung mit dem Faustischen Material fort. Diese Ausstellung der ACC Galerie im Rahmen des Themenjahres Faust 2025 der Klassik Stiftung Weimar gestalteten vier Künstler*innen auf jeweils 80qm – inspiriert von ausgewählten Textpassagen aus Goethes Faust und mit dem Fokus auf einer Neubetrachtung Mephistos. Welche Gültigkeit hat diese Gestalt heute, mit Blick auf Gewalt, Macht- und Dominanzverhältnisse, auf Geschichtskonstruktion und Kollektivvergessen, auf Ausgrenzungserfahrung und Selbstbestimmung?
Bernd Kauffmann, ehemaliger Präsident der Stiftung Weimarer Klassik, früherer Intendant des Kunstfestes Weimar und Generalbeauftragter der Weimar 1999 — Kulturstadt Europas GmbH, liefert dabei einen wesentlichen Anteil des geistig-konzeptionellen Inputs zur Ausstellung.
Mephisto wird im zweiten Teil von Goethes Drama, wie Bernd Kauffmann anmerkt, zum „kalten Zyniker der Macht, ein Mann fürs Grobe und Gewalttätige, ein Unternehmens- und Anlageberater, Finanzhasardeur und -jongleur der miesen und gerissenen Sorte, ein Strippenzieher der dreckigsten Art“, der den „zum optimierungsbesessenen Managing Scientist mit grenzenlosem Geltungs-, Wissens- und Gestaltungsdrang mutierten Faust, einen Typus Mann, den man selbst mit Waffengewalt nicht zur Demut schleifen könnte“, durch die Weiten der Welt coacht. Bei aller Feierlaune über Goethes Ankunft in Weimar vor 250 Jahren besteht das Tragische des Faust II in der „so entscheidenden Erkenntnis, daß auf des Menschen Tun in allem, was ihm wichtig, dringlich und geboten, zuweilen auch heilig scheint, meist das Desaster samt Bestrafung folgt, wobei aus dem dann folgenden Tun wieder ein Desaster entsteht. (…) Es geht nicht gerecht zu in dieser aufs Neue schlafwandelnden Welt, dem vermeintlichen Fortschritt folgt die Zerstörung auf dem Fuße, und Leichen pflastern die Wege der Projektemacherei.“ (Bernd Kauffmann)
Mit Edith Kollath (*1977, Eutin) beginnt die Ausstellung. Sie lebt und arbeitet in Berlin. Ihre künstlerische Arbeit beginnt dort, wo sich etwas Unausgesprochenes entfaltet: zwischen Körpern und Räumen, Materialien und Bedeutungen. In Installationen, Objekten und Szenografien erforscht sie das ‚Auch-Anders-Mögliche‘ — das, was zwischen Kontrolle und Kontingenz, zwischen Präsenz und Abwesenheit schwebt. Seit 2025 ist sie Professorin für Raum, Körper, Objekt an der Hochschule Bielefeld.
Das Initialobjekt im Ausstellungsentrée ist ein atmender Faust-Band aus Edith Kollaths Werkreihe thinking I’d last forever. Ein Buch also, das den Wunsch nach ewigem Leben hegt. Die Serie umfasst antiquarische Bücher – Klassiker der Weltliteratur – die durch feine Mechanismen zu atmen scheinen. Der Rhythmus jedes Exemplars ist individuell: Die Einbände heben und senken sich, die Seiten entfalten sich und offenbaren für einen Moment ihre Zerbrechlichkeit. In dieser sanften Bewegung strömt Luft zwischen den Seiten und aktiviert die vielschichtigen Erzählungen, die in die gealterten Objekte eingeschrieben sind: Die Geschichten der Autor*innen verflechten sich mit Spuren früherer Besitzer*innen – Widmungen, die die Bücher als Geschenke kennzeichnen, Eselsohren, Unterstreichungen und Inschriften, die persönliche Verbindungen offenbaren. Der hier gezeigte Faust-Band war über Generationen in Familienbesitz. Nicht aus bildungsbürgerlichem Kontext stammend, zeugt er von einem beharrlichen Streben nach Wissen – trotz knapper Mittel, besonders auf mütterlicher Seite. Aufgrund seines außergewöhnlichen Formats musste ein neuer technischer Antrieb entwickelt werden; Materialität, Gewicht und Dimensionen verlangten nach zusätzlichen Nähten, Knoten und Verbindungen. Die atmenden Bücher laden zur Empathie ein – sie sind mehr als nur Wissensspeicher. Sie öffnen Räume, in denen Fiktion zu einer Kraft wird, die Welt neu zu denken.
In den Werken Thomas Hammelmanns (*1964, Dortmund), links durch den schwarzen Vorhang, treffen Projektionen auf Gegenstände, die dem Alltag entnommen sind oder aber speziell für Projektionen gebaut wurden und deren Gegenwart und Bewegung das Bild bestimmen. Seit seinem Philosophiestudium zeigt Hammelmann großes Interesse an den Wahrheitsfindungsprozessen von Menschen und befasste sich dabei besonders mit den Positionen des späten Ludwig Wittgenstein und Michel Foucault. Das Bewegtbild spielt ab 1992 in seiner künstlerischen Arbeit eine große Rolle. Seit 2016 berühren auch Video-Rauminstallationen und -Objekte philosophische und politische Fragestellungen. Von diesem Künstler aus Freiburg im Breisgau werden die Besucher*innen mitgenommen in die Dunkelheit und erleben durch die seltsame Beleuchtung von Dingen, wie beschränkt unsere Wahrnehmung ist und wie wenig wir zu verstehen imstande sind, „was die Welt im Innersten zusammenhält.“
Raum und Zeit verbinden sich in Thomas Hammelmanns Installation Isles of Remnants and Darkness (Inseln der Überreste und der Dunkelheit) zu Inseln aus Zerbrochenem, Objekten und Fotografien, die aus der Dunkelheit hervortreten, indem sie mit fragmentierten Bild- und Videoerscheinungen geflutet werden. Mephistos Antrieb und Ziel, die „Finsternis, die sich das Licht gebar“ wiederherzustellen, wird dabei zum thematischen Kern: Die Zerstörung aller Körper und Lebewesen, die ohne das Licht nicht existieren können. Wir Menschen sind auf dem besten Weg zur Vernichtung von allem, was ist und werden zu Erfüllungsgehilfen der Dunkelheit. Was bleibt, sind Impressionen fragmentierten (Video-)Lichts, das aufblitzend und verlöschend als „Lichtmüll“ an den Körpern „klebt“. Nichts als Teile, die von bereits unverständlichen Bildern beschienen werden. Ein Verstehen von Welt — gar in Goetheschem Sinne — nähert sich fast der Unmöglichkeit. Wie sagt Mephisto: „Und auf Vernichtung läuft’s hinaus.“
Schon von Weitem hört man es unentwegt klirren und scheppern, poltern und klimpern, klappern und rasseln. Sirenengeheul. Synthesizerklänge. Menschen, die rückwärts sprechen. Durch einen schwarzen Vorhang betritt man die Installation Isles of Remnants and Darkness von Thomas Hammelmann, die sich auf sechs „Lichtinseln“ in zwei dunklen Räumen von 50 Quadratmetern verteilt, in denen schon Goethe (von 1776 bis 1777) lebte: Ein klangstarkes, bitteres, zorniges „Scherbengericht“ über diese tiefgestörte Welt, die unter gebrochenen Spiegeln, Lichtmüll, Düsternis und fragmentierten Bildern das mephistophelische „und auf Vernichtung läuft’s hinaus“ unserer Welt und Zivilisation aufscheinen lässt, die außer brüchigem Sperrgut und zerrenden Klängen bald nichts mehr erkennen lässt als nur das „ewig Leere“, wie Bernd Kauffmann, Konzeptentwickler der Ausstellung, das Multimediawerk (oder besser: Gesamtkunstwerk) bezeichnet. Inspiriert ist es von dem, worüber Mephisto im Studierzimmer Faust unterrichtet: …denn alles, was entsteht, Ist wert, daß es zugrunde geht; Drum besser wär's, daß nichts entstünde. So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, Mein eigentliches Element. Und mehr noch: Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war, ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar, das stolze Licht, das nun der Mutter Nacht den alten Rang, den Raum ihr streitig macht. Und doch gelingt‘s ihm nicht, da es, soviel es strebt, verhaftet an den Körpern klebt: Von Körpern strömt‘s, die Körper macht es schön, ein Körper hemmt's auf seinem Gange; so, hoff ich, dauert es nicht lange, und mit den Körpern wird‘s zugrunde gehn. Der Zustand des „Tohuwabohu“ („Tohu“: Chaos, Leere, Wüste), wie die öde Finsternis in der Kabbala bezeichnet wird, ist die Welt des ursprünglichen Chaos, die vor der Schöpfung der geordneten Welt existierte. Goethe schreibt sie dem Anfang von allem zu. Als das Licht in die Welt kam, zerstörte es, wie es in der Kabbala heißt, einige der Gefäße, die es auffangen sollten, und wir können diese Gefäße, die beim Schöpfungsakt in Scherben zerbrachen und aus denen das Böse hervorgebracht wurde, nicht reparieren, sondern stehen da und erkennen nicht den Sinn des Ganzen. Die Zeit des Zerbrechens und des Zerbrochenen scheint gekommen zu sein und eine Hölle aus Müll liegt vor uns. Dinge, von denen wir aßen und aus denen wir tranken, die Flüsse und Böden sind tief verletzt wie die Teller und Tassen dieser Arbeit, auf denen Bilder unserer Zivilisation nun auch nur fragmentiert oder verzerrt erscheinen. Alles aber ist bunt, dreht sich, bewegt sich, als wäre da noch Richtung und Ziel (…und treibt sich doch, als wenn es wäre…), aber jede Bewegung führt ins Leere, endet irgendwann, um dann wieder zu beginnen. Der Ton, manchmal Lärm, manchmal Musik, manchmal Stimme, deutet bisweilen Großes an, das nirgends stattfindet, treibt scheinbar dahin, simuliert Friedliches, während nebenan alles zu zerbrechen scheint. Ein Bildermeer zieht über hängende, liegende und rotierende Geschirrlandschaften oder ein Netzwerk aus sechs hintereinander geschichteten, strukturierten Projektionsflächen. Darauf webt eine Spinne eine ins Netz gegangene Fliege ein. Ein Feuerwerk wird entfacht. Als Ausgang aus dem Dunkel dieser beiden Räume mit ihren vier Installationen, ihrem Lärm und ihrer Bilderflut, kann man nun quasi durch eine Pforte schreiten, deren Hüter die Speisen, das Organische selbst sind, aber offensichtlich ungenießbar, vergammelt und zu Undefinierbarem mutiert. Nicht nur die anorganischen „Körper“, sondern auch alles Lebendige geht zu Grunde und im schwachen Schein der Lampen ist das erst auf den zweiten Blick wahrzunehmen. Dann wird diese Welt verlassen und ein Raum mit drei großformatigen Fotos von Mülllandschaften aus Joghurtdeckeln, Schlachtabfällen, Papier und Elektroschrott, Montagen von organischem und anorganischem Müll, und dem atmenden Buch von Edith Kollath (das man nun von der anderen Seite sieht) wird wie ein neuer Höllenkreis betreten…
In tender buttons (u.a. zu sehen in einer kleinen Spiegelkammer, die man zur Rechten über den sehr schmalen, farbigen Gang erreicht) versieht Edith Kollath gefundene Steine mit Druckknöpfen und bringt sie in neue, reversible Verbindungen: an Möbeln, Wänden, anderen Steinen. So entsteht ein poetisches System des Anhaftens und Loslassens, das immer wieder neue Konstellationen zulässt. Der Titel verweist auf das gleichnamige Werk der US-Schriftstellerin Gertrude Stein, in dem Sprache zersplittert, kreist, flüchtig wird. Auch hier liegt die Kraft im Detail, im Zwischenraum, im wiederholbaren Moment. Im Hintergrund schleicht sich eine andere Figur ein: die Sorge aus Goethes Faust II. Sie dringt durch das Schlüsselloch, bleibt unsichtbar, aber spürbar – eine feinstoffliche Präsenz, die haftet wie ein Stein in der Tasche, wie ein Gewicht auf dem Herzen. In tender buttons hallt die Sorge nach – nicht als Figur, sondern als Zustand: eine leise, vibrierende Unsicherheit, die sich in jede Verbindung einschreibt. Sie liegt in der Luft, im leichten Widerstand der Druckknöpfe, im Zögern des Anhaftens. Es ist ein stilles Spiel mit Berührung, Erinnerung und der Frage, was sich wirklich verbinden lässt – und was bestehen bleibt.
Das multimediale Werk des seit 1990 in Minneapolis (US) lebenden Polen Piotr Szyhalski (*1967, Kalisz) umfasst Zeichnungen, Poster, Drucke, Fotografien, Wandmalereien, interaktive digitale Medien, Klangkunst, Installationen und Performances. Seine vielschichtigen Arbeiten erforschen extreme historische Phänomene, Kommunikation/Austausch und die Beziehungen zwischen Individuum, Gesellschaft, Geschichte und Zeit. 1998 gründete er das Labor Camp, ein fortlaufendes Kunstprojekt, das unter dem Motto „We Are Working All The Time!“ steht. Szyhalski ist Professor für Medienkunst am Minneapolis College of Art and Design.
Seine Serie The Lawmakers kommentiert Piotr Szyhalski folgendermaßen: „Teil der Report-Serie von 2020 waren diese wenigen Szenen, die eine Art Gierorgie alter weißer Männer zeigen. Jetzt, da wir eine neue Ebene der Hölle betreten haben, beschloss ich, eine Reihe individueller Porträts dieser diebischen, lügnerischen, manipulativen, machtbesessenen Charaktere anzufertigen. Ich bin müde von dem erstickenden Einfluss, den sie auf die Welt zu haben scheinen. Äußerlich und, noch schlimmer, innerlich. Sie sind in unsere Gedanken eingedrungen, haben die Realität verdreht, die Wahrheit verdreht, alles gestohlen, was sie konnten, und maßen sich weiterhin ihr Herrschaftsrecht an. Ich zeichne sie, um sie aus meinem Kopf zu bekommen. Um sie durch Zeichnen auszulöschen. Ich gebe ihnen keine Namen: Jeder einzelne von ihnen ist sie alle. Ich weiß, du kennst sie auch.“
Edith Kollaths ... and not quite still fokussiert auf die ambivalente Figur der Sorge. In Faust II erscheint sie nicht als laute Widersacherin, sondern als feinstoffliche, beinahe unsichtbare Macht — leise, aber durchdringend. Anders als Mephisto agiert die Sorge aus dem Verborgenen: Sie schleicht, untergräbt, lähmt und blendet – und entfaltet eine enorme Wirkmacht. Durch stetes Fragen, Zögern, Zaudern und Schwanken entzieht sie Kontrolle, bringt Gleichgewichte ins Wanken. In Kollaboration mit Jens Weber (Weimar) entstand so ein vibrierender, schwankender Raum, der das nagende Gefühl existenzieller Unruhe körperlich spürbar macht. Im kleinen Raum nebenan zeigt threats and thornes …and not quite still erzitternde Stacheldrähte. Hier verdichtet sich das Thema: Die Bedrohung ist nicht laut, nicht sichtbar im klassischen Sinne – aber sie ist da. Eine Spannung liegt in der Luft, fein wie ein Stromfeld, kaum greifbar und doch beklemmend real. Sorge wird zur Atmosphäre, Angst zur Architektur.
Der Konzeptkünstler Mischa Kuball,(*1959 in Düsseldorf), wo er lebt, arbeitet seit 1977 im öffentlichen und institutionellen Raum. Licht ist sein zentrales Medium, um architektonische Räume und mit ihnen soziale und politische Diskurse zu erforschen. In politisch motivierten Partizipationsprojekten verschmelzen öffentlicher und privater Raum zu einem Ganzen und bieten eine Plattform für die Kommunikation zwischen Publikum, Künstler, Werk und öffentlichem Raum. Kuball ist seit 2007 Professor für Kunst im öffentlichen Raum an der Kunsthochschule für Medien, Köln und wurde 2016 mit dem Deutschen Lichtpreis ausgezeichnet.
Mischa Kuballs tood-taboo-trance „… besteht aus einer Projektion dieser drei Worte auf drei herabhängende Spiegelbälle in der Raummitte. Die Farben rot, grün und blau (RGB, die, wenn sie kombiniert werden, eine breite Palette von Farben ergeben) werden auch auf die Kugeln projiziert. Die Projektionen reflektieren auf den Wänden ebenso wie auf dem historischen Boden und der Decke. Das Resultat ist eine Aura von sich permanent auf den Oberflächen des Innenraums verändernden Farben und Buchstaben der Worte. Die Installation zielt darauf ab, Zwischen-Positionen und Gegensätze hervorzuheben, darunter: Leben und Tod, was berührt werden sollte und was nicht (taboo), unter Kontrolle stehen und Kontrolle verlieren (trance), ebenso wie Zeit, Raum und Farbe. Diese Arbeit ist beeinflusst von der Lektüre von seit Mitte der 1960er Jahre verfassten Texten mit Bezug zu Linie und Licht des französischen Psychoanalysten Jacques Lacan."
Piotr Szyhalskis panoramisches, brandaktuelles Weltepos-Wimmelbild Model Collapse (2024) aus 104.657 Strichen erfasst, anders als seine Reports, die auf spezifische Ereignisse oder Ideen reagierten, eine breitere „Landschaft“ und kann als emotionaler, intellektueller und viszeraler Sturm verstanden werden, der uns verschlingt oder sich still in uns zusammenbraut. Der Tod in Kampfuniform mit Sense und Sturmgewehr beobachtet eine Explosion. Eine Frau liest Kindern vor. Ein Mann sitzt auf sein Handy starrend auf einer nicht detonierten Bombe. Bücherhaufen gehen in Flammen auf. Vögel, grasende Büffel, aus Knochen wachsende Blumen, Eingeweide und Trümmer, in denen eine Künstlerin, angesichts all dessen, versinkt. Neben Verlustgefühl ist da auch Hoffnung — wie bei Faust, der erst auf dem Schlachtfeld zur Besinnung kommt.
Korrespondierend mit seinem raumfüllenden, 16 Meter langen Panorama Model Collapse berichtet Piotr Szyhalski: „Modell: Kürzlich las ich über den „Modellkollaps“, einen Begriff, der den zyklischen und degenerativen Prozess der KI beschreibt, die sich selbst oder mit anderen KI-generierten Inhalten trainiert. Ein uroborosartiger Prozess (einer Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt und so mit ihrem Körper einen geschlossenen Kreis bildet), der immer abweichendere Versionen der imaginären Realität konstruiert. Das Erlernen der Lügen. Die Vision dieser sich rapide verschlechternden Welt ist zwar an sich schon beängstigend, doch sie bietet auch neue Einblicke in unsere heutige Zeit. Wir zerstören unsere Umwelt, indem wir riesige Serverfarmen bauen, um den unersättlichen Speicher-, Verarbeitungs- und Energiebedarf der künstlichen Intelligenz zu decken. Wir tauschen das Reale gegen das Künstliche. Geschichte: Es ist offensichtlich, dass die gegenwärtige politische, soziale und kulturelle Situation in hohem Maße von dem Weltbild geprägt ist, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden ist. Als ob wir nichts gelernt hätten, wiederholen wir kollektiv die schlimmsten Grausamkeiten. Diese zerstörerische Rückblende gibt einem das Gefühl, dass unser menschliches Modell tatsächlich vor unseren Augen zusammenbricht. Es scheint unaufhaltsam zu sein, wobei unsere Handlungsfähigkeit mit jedem Tag abzunehmen droht und in faschistischer Rhetorik erstickt, die nun mit dem Anstrich neuester glatter Sprachmodelle versehen wird. Allein im 20. Jahrhundert haben wir mehr Menschen getötet als in der gesamten aufgezeichneten Geschichte zuvor. Die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts deuten darauf hin, dass wir bereit sind, uns erneut selbst zu übertreffen. Körper: Im Sommer 2024 wurden bei mir zwei Arten von Krebs diagnostiziert. Nachdem ich Anfang des Jahres meinen Vater durch dieselbe Krankheit verloren hatte, betrat ich diesen neuen Raum mit Trauer, Angst und Verwirrung. Meine Mutter beschrieb den Moment als eine Bombenexplosion, die das eigene Leben unerwartet und doch völlig verändert. Sie sagte: „Nachdem die Bombe explodiert ist und sich der Rauch verzogen hat, findet man sich in einer anderen Welt wieder. Und dann beginnt man zu lernen, wie man sich in der zerstörten Landschaft zurechtfindet.“ Krebs ist vieles, aber ich merke, wie unerbittlich er meinen eigenen Halt in der Realität auflöst. Enthält die Welt meinen Körper oder enthält mein Körper die Welt? Egal. Es ist auf eine Art und Weise erfrischend viszeral, die ich mir nie hätte vorstellen können. Da ich die ganze Zeit atme und an Krebs denke, fühle ich mich gleichzeitig körperlicher und immaterieller. Wahrheit: Unfähig, zwischen Realität und Künstlichkeit zu unterscheiden, schwimmen wir in einer grotesken Variante dessen, was unsere Welt hätte sein können. Nichts ergibt einen Sinn, und wir verstehen die Wahrheit nicht mehr als die ethische Grundlage, die sie einmal war. Eine Landschaft, die sich mit jeder Betrachtung weiter aus der Existenz halluziniert.“
Und zu seiner dritten Arbeit in dieser Ausstellung, Empire, inspirierten Piotr Szyhalski diese Gedanken: „Das neue Regime ist da! Und wir gleiten offiziell in den Faschismus ab. Das Regime, ermutigt durch die Unterstützung von Millionen Amerikaner*innen und gestützt von der herrschenden Klasse der Milliardäre, verbirgt seine teuflischen Absichten nicht länger. Alles ist offen für uns sichtbar. Von einem Tag auf den anderen stolpern wir rückwärts und driften blindlings in die Vergessenheit. Wie werden wir uns in dieser neuen Landschaft zurechtfinden? Ist Widerstand möglich? Wird der Zusammenhalt überleben? Wird es „wir gegen sie“ heißen, „du gegen mich“? Wird es „uns“ geben?“
Auf den ersten Blick wirkt der von Thomas Hammelmann gestaltete kleine Raum namens Jesus (und zur Arbeit Isles of Remnants and Darkness gehörend) mit dem Kreuz wie eine Grabstätte. So ist auch jene Stelle in Goethes Drama, auf die sich diese Arbeit bezieht, die Grablegung von Faust. Während Mephisto am Grab steht, sinniert er darüber, was dieses Leben, das da nun so zu Ende gegangen ist, denn wert war, und ob es sich gelohnt hat: „Da ist’s vorbei, was ist daran zu lesen, es ist so gut, als wär es nicht gewesen…“ Der Körper liegt da, tot, zerbrochen. Der Mensch, selbst der Mensch gewordene Gott wird zu nichts. Algenschaum wabert auf seinem Körper, der dann wie heilig erglüht mit Himmelslichtern oder was man dafür halten kann, eigentlich nur ein albernes Feuerwerk… und gibt sich den Schein des Wertvollen. „… und treibt sich doch im Kreis als wenn es wäre…“ Aber der ganze Mensch, wenn er erst tot ist, verschmilzt (hier mit Kreuz und Video) bis zur Ununterscheidbarkeit mit dem Hintergrund und verschwindet. Was bleibt also? „…Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere…“ Die sakrale Musik, die unablässig klingt, ist ein geistlicher Gesang von Gesualdo, einem Renaissance-Komponisten, der selbst zum Mörder an seiner Frau, ihrem Liebhaber und einer kleinen Tochter, deren Herkunft ungeklärt war, wurde …
In der Doppel-Diaprojektion Metaphases (im langen Gang mit rotem Teppich), erläutert Mischa Kuball, habe ich auf die Begrifflichkeit der Molekularbiologie zurückgegriffen. Die Metaphase ist eine Phase der Mitose, unter welcher man die einfache Zellkernteilung versteht, bei der aus einer Zelle zwei identische Tochterzellen entstehen. Die Funktion der Mitose ist die Vermehrung von Zellen. Sie lässt sich in die Phasen Prophase, Metaphase, Anaphase und Telophase einteilen. In der Metaphase ist die DNA im Lichtmikroskop sichtbar. Die Chromosomenpaare liegen am dichtesten kondensiert vor und lagern sich innerhalb der Zelle in der Äquatorialebene an, d.h. an der Mittelinie der Zelle – bevor sie in die Zellteilung der Anaphase übergehen. Das gestreckte schmale Erscheinungsbild der Zelle in der späten Metaphase veranlasste mich zur Namensgebung für die Diaprojektion. Für diese verwendete ich Porträts von bekannten Schriftstellern, Philosophen, Wissenschaftlern und Künstlern (u.a. von Horst Antes, Rudolf Augstein, Ernst Bloch, Heinrich Böll, Max Born, Otto Dix, Josef Eberle, Dietrich Fischer-Dieskau, Josef Frigns, Hans-Georg Gadamer, Günter Grass, Hap Grieshaber, Walter Gropius, Martin Heidegger, Karl Jaspers, Uwe Johnson, Fritz Kortner, Gerhard Marcks, Carl Orff, Hans Purrmann, Nelly Sachs, Carlo Schmidt und Martin Walser) aus dem Bildband „Porträts aus dem geistigen Deutschland“, den der Fotograf Paul Swiridoff im Jahr 1965 herausgab. Für die Lichtprojektion wurden diese 81 Porträts abfotografiert. Die Projektionen werden durch einen von der Decke herabhängenden, rotierenden, konvex-konkav geformten Vergrößerungsschirm präzise abgebildet und dann verzerrt und dekonstruiert. Die Betrachtungsintervalle sind genau definiert und die Personengalerie durchläuft in einem ewigen Aufscheinen und Verschwinden den Raum. Die intellektuelle Ahnengalerie Nachkriegsdeutschlands wird in diesem poetischen Erinnerungswerk gleichsam dem Zyklus des Lebens unterworfen. Ich wählte diese Arbeit als Ausgangspunkt für die bi_näre Frage an unsere Idee von Mephisto und Faust – deshalb wurden die bestehenden Porträts um darstellende „Avatare“ einer Figur von Mephisto ergänzt. Begleitet wird die Installation von in nicht akzentfreiem Deutsch geflüsterten Textsequenzen von Mephisto und Faust aus der Studierzimmerszene.
Ein Dialog zwischen Objekt und Raum entfaltet sich in Edith Kollaths Installation Retracted Spirit (Kindness on Your Part) (Zurückgezogener Geist (Freundlichkeit Ihrerseits)), inspiriert vom Faltmechanismus eines Regenschirms. Ihr Kernstück bildet eine halbtransparente, weiß leuchtende Röhre, umhüllt von zwei schwarzen Metallringen. Von diesen Ringen erstrecken sich Metallstäbe und bilden dynamische Dreiecksgeometrien. Es scheint, als würden die Enden der Stäbe nach außen greifen und sanft die Wände erkunden. Die Struktur passt sich den Raumdimensionen an: Je nach Position der Ringe dehnen oder ziehen sich die Stäbe zusammen und erzeugen so ein ortsspezifisches Kräftediagramm. Die Wände bergen das Expansionspotenzial der Skulptur, schöpfen ihre Bewegung innerhalb der vorgegebenen Parameter aus und ermöglichen dennoch ein feines Gleichgewicht und Stabilität. In dieser gegenseitigen Abhängigkeit verwandelt die Skulptur den Raum in einen aktiven Teilnehmer, der zwischen seinen physischen Grenzen und der dynamischen Spannung seiner Form agiert. Faust will aus der Enge ausbrechen, sich aus den limitierenden Normen befreien, akzeptiert keine Grenzen: mehr Wissen, mehr Geld, mehr Vergnügen, mehr Land. Alles muss in Bewegung sein, beschleunigt werden, um Neuland betreten zu können. So sind auch die Expansionsbestrebungen und der Landhunger dieses Weltkolonisators und Eroberers grenzenlos, ist sein Ansinnen die Unterwerfung von Natur, tradierter Kultur und Glauben. Und so könnte dieses aus dem White Cube der Galerie hinausstrebende, sich mit seinen Tentakeln in anrainende Räume vortastende Vehikel auch als sich ausbreitendes „veloziferisches“ oder faustisches Maschinenwesen eingelesen werden.
Mi 30.4.2025 | 20:30 Uhr Eröffnung
Gefördert durch: Thüringer Staatskanzlei — Abteilung Kultur und Kunst, Stadt Weimar, Förderkreis der ACC Galerie Weimar
Beteiligte
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Erste Eindrücke
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Weitere Bilder
Eingang: Zitat (1605 — Faust I Studierzimmer, Mephistopheles) -
Eingang: Zitat (1350 — Faust I, Studierzimmer, Mephistopheles) -
Edith Kollath: "Thinking I'd last forever" (2025) -
Eingang: Zitat (4909 — 1. Akt / Kaiserliche Pfalz, Saal des Thrones / Kanzler) -
Eingang: Zitat (4778 — 1. Akt / Kaiserliche Pfalz, Saal des Thrones / Kanzler) -
Eingang: Zitat Rückseite -
Thomas Hammelmann: Isles of Remnants and Darkness und Zitat (1339 — Faust I, Studierzimmer, Mephistopheles) -
Thomas Hammelmann: Isles of Remnants and Darkness -
Thomas Hammelmann: Isles of Remnants and Darkness -
Thomas Hammelmann: Isles of Remnants and Darkness -
Thomas Hammelmann: Isles of Remnants and Darkness -
Thomas Hammelmann: Isles of Remnants and Darkness -
Thomas Hammelmann: Isles of Remnants and Darkness -
Thomas Hammelmann: Isles of Remnants and Darkness -
Thomas Hammelmann: Isles of Remnants and Darkness -
Thomas Hammelmann: Isles of Remnants and Darkness -
Der bunte Gang- Mit blick auf Edith Kollaths "Retracted Spirit" -
Durchgang von Burgplatz 1 zu 2: Zitat -
Edith Kollath: "Retracted Spirit" -
Edith Kollath: "Retracted Spirit" -
Edith Kollath: "Retracted Spirit" und "Not quite still" -
Edith Kollath: "Tender buttons" und Zitat (4909 — 1. Akt / Kaiserliche Pfalz, Saal des Thrones Mephisto) -
Zitat: 4909 — 1. Akt / Kaiserliche Pfalz, Saal des Thrones Mephisto -
Edith Kollath: "Tender buttons" -
Edith Kollath: "Tender Buttons" -
Mischa Kuball: "Metaphases" -
Mischa Kuball: "Metaphases" -
Piotr Szyhalski: "Empire" -
Piotr Szyhalski: "Empire" -
Piotr Szyhalski: "Empire" -
Im "Empire"-Raum: Zitat (100124 — 4. Akt / Hochgebirg / Mephistopheles) -
Thomas Hammelmann: "Isles of Remnants and Darkness" -
Thomas Hammelmann: "Isles of Remnants and Darkness" -
Piotr Szyhalski: "Model collapse" -
Piotr Szyhalski: "Model collapse" und Zitat (8313 — Zweiter Akt / Klassische Walpurgisnacht, Telchinen von Rhodus) -
Piotr Szyhalski: "Model collapse" -
Piotr Szyhalski: "Model collapse" -
Piotr Szyhalski: "Model collapse" -
Piotr Szyhalski: "Model collapse" -
Piotr Szyhalski: "Model collapse" -
Piotr Szyhalski: "Model collapse" und Zitat (Brief an Charlotte von Stein) -
Piotr Szyhalski: "Model collapse" und Zitat (11125 — 5. Akt / Palast, Am Tisch zu drei im Gärtchen / Baucis) -
Blick auf Mischa Kuball: "Metaphase" und Piotr Szyhalski: "The Lawmakers" -
Piotr Szyhalski: "The Lawmakers" -
Zitat: (11184 — 5. Akt / Palast, Weiter Ziergarten / Mephistopheles) -
Zitat: (4825 — 1. Akt / Kaiserliche Pfalz, Saal des Thrones / Heermeister) -
Piotr Szyhalski: "The Lawmakers" -
Edith Kollath: "Tender buttons" und Zitat (11620 — 5. Akt / Palast, Grablegung / Mephistopheles) -
Piotr Szyhalski: "The Lawmakers" -
Piotr Szyhalski: "The Lawmakers" -
Mischa Kuball: "Tood-Taboo-Trance" -
Edith Kollath: "Not quite still" -
Edith Kollath: "Not quite still" -
Edith Kollath: "Not quite still" und Zitat (ca. 11453 — 5. Akt / Palast, Großer Vorhof des Palasts / Sorge) -
Edith Kollath: "Not quite still" -
Edith Kollath: "Not quite still" -
Bunter Gang mit Blick auf Piotr Szyhalski: "The Lawmakers" -
Edith Kollath: "Not quite still" -
Zitat (10083 — 4. Akt / Hochgebirg / Mephistopheles)