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Künstler*innen

Victor del Moral Rivera, Bild: privat.

Victor del Moral Rivera

MX, geboren 01.01.1987

Lesedauer etwa 6:09 Minuten

Der zweite Stipendiat des 25. Internationalen Atelierprogramms 100 Jahre Bauhaus — Von Wörtern und Bildern und Wortbildkunst ist — nach dem Japaner Tsuyoshi Anzai — Victor del Moral Rivera (*1987) aus Mexiko, von Juni bis September zu Gast in Weimar. Er untersucht mit der Entwicklung von Lecto-Sculptures — komplexen und «lebenden» Installationen — das Medium Text in performativen Zusammenhängen. Im Spiel von Texturen, Buchstaben und typografischen Elementen bringt er Sprache und Welt, Sprache und Denken in einen dynamischen Verhandlungsprozess, der mit dem Bauhaus-Erbe ins «Gespräch» tritt. Zwischen Visuellem und Sprachlichem oszillieren seine grafischen, skulpturalen und choreografischen Methoden und bringen Verschiebungen und Affizierungen in Gang: Architekturen werden zu Worten, Poetik zu Objekten, Texte zu Landschaften — all das inszeniert sich in hybriden Gefügen.

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La force de l’habitude
Die Macht der Gewohnheit
von Michel Blancsubé

Zu den Arbeiten von Victor del (M)Oral Rivera

Die mit Sternchen (*) versehenen Sätze stammen von Victor del (M)Oral Rivera.

Man kann sich vorstellen, dass Gesten die ersten Verständigungen zwischen Menschen waren, begleitet womöglich von Lautmalereien, von mehr oder weniger melodischen Lauten. Nachdem sie in Gegenwart eines Objektes, Wesens oder bei einer Handlung erstmals geäußert wurden, behielt man sie bei und wiederholte sie jedes Mal, wenn das gleiche Phänomen auftauchte oder geschah. Mit der Zeit bildete sich ein auditives Gedächtnis aus und man kann sich vorstellen, dass der identisch reproduzierte Laut nach und nach genügte, um das Objekt auch dann in Erinnerung zu rufen, wenn es selbst gar nicht zugegen war. Die Wiederholung einzigartiger Laute beim erneuten Erscheinen desselben Dings ist ohne jeden Zweifel der Ursprung der Sprache.

Je suis très répétitif*
[Ich wiederhole mich sehr oft]

behauptet Victor del (M)Oral Rivera.

Im soll versichert sein: Der Appetit auf Neues verbietet nicht, auch das schon Gesehene zu genießen!

Die Beziehung der Wörter zur Materie – der fäkalen oder anderen – trägt, beseelt und entflammt seit jeher gewisse Schriftsteller. Stéphane Mallarmé machte sich den Tod Gottes zu eigen, den vorher Friedrich Nietzsche verkündet hatte, und nimmt die Materie als einzige Gesprächspartnerin an, die seither von den Menschen akzeptiert wird. Antonin Artaud schreibt mit 30 Jahren, dass alles Geschriebene Schund ist („toute l'écriture est de la cochonnerie“), und hörte trotzdem nicht auf, Schulheft über Schulheft mit fiebriger Schrift vollzuschreiben. In über 400 dieser kleinen Hefte lässt Artaud im Laufe der letzten drei Jahre seines Lebens seiner berühmten „machine à souffle“ (Atemmaschine) freien Lauf.

no como porque después cago*
[Ich esse nicht, weil ich danach scheiße]

Die Beziehung des Immateriellen zu den Worten, zu dem, worauf sie hinweisen, was sie kommentieren und benennen, steht als abstrakte Kunst par Excellence im Herzen der künstlerischen Arbeit von Victor del (M)Oral Rivera. Er widmet seine Zeit, seinen Geist und seine Vorstellungskraft der Sprache. Der Künstler gibt den sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets und ihren unendlichen Anordnungen eine Gestalt, und sei es nur, indem er sie schreibt. Er macht sie greifbar und handhabbar. Er macht das Wort (als Ansammlung der Buchstaben) hörbar, lässt es widerhallen und wirr werden. Damit das Gegenüber zuhört und (hörend) versteht.

Die Immaterialität (der Worte) bleibt verunsichernd und verführerisch zugleich. Sie wird verdoppelt von der Unsichtbarkeit des Lauts, den die Worte zurückgeben, wenn sie – laut ausgesprochen – sich verfremden, verformen, pervertieren und verseuchen lassen!

soy un nopal metido en una baguette*
[Ich bin ein Kaktus in einem Baguette]

lässt Victor im Laufe der Performance „Peut-être mais ce n’est pas vrai / Au-tor-mienta“ fallen, die er an der École supérieure d’art in Aix-en-Provence 2014 aufführte.„Au-tor-mienta“ ist ein Spiel mit den Silben: “Der Autor lügt" (autor mienta), „Sturm“ (tormenta).

Manchmal ächzt del (M)Oral Rivera zwanghaft vor einem Spiegel stehend kurze Sätze ohne oder mit nur wenigen Unterbrechungen wieder und wieder. Er wiederholt sie wie ein Mantra, eine Litanei, auf eine Art und Weise eindringlich - unaufhörlich skandiert und hervorgestoßen, dass der Sinn verloren geht. Angesichts mancher dieser deklamatorischen Meisterleistungen Victors hat man letztlich den Eindruck, Atemübungen beizuwohnen, die ein Schauspieler in seiner Garderobe fernab der Blicke praktiziert, bevor er auf die Bühne tritt.

Who I am*
[Wer ich bin]

I don’t know what to think about people*
[Ich weiß nicht, was ich von den Leuten denken soll]

No me interesa*
[Das interessiert mich nicht]

Die Ernsthaftigkeit, mit der del (M)Oral Rivera seine Äußerungen skandiert, erschafft eine tragikomische Atmosphäre, in der man zwischen Ernst und Lachen schwankt. Parallel zu dieser künstlerischen Praxis zwischen Schreiben und Performance produziert del (M)Oral Rivera unaufhörlich Objekte, bastelt Dinge aus den verschiedensten Materialien, unter denen Spiegel und Leitern eine wesentliche Rolle einnehmen. Ganz zu schweigen vom immer wiederkehrenden Papier.
Victor del (M)Oral Rivera lebt inmitten der Objekte, die er zerkleinert, zerschneidet, zusammenfügt, vereint, durchbohrt, im Atelier anhäuft oder an der Wand fixiert.
All seine Performances werden aufgenommen und zu Videos verarbeitet, die er sorgsam editiert. Er schafft und filmt außerdem vergängliche Bewegungen von Materie. Beispielsweise die Aufnahme des Sturzes eines großen A aus Gips in der Größe des Künstlers, das er von einem mehr als hundert Meter hohen Turm stößt! Ein blitzartiges Ereignis von wenigen Sekunden, eine punktuelle, schnelle und prägnante, widerstandslose Handlung – die Auswirkung der Schwerkraft auf irgendeine beliebige Masse, die ins Leere fallen gelassen wird. Die Zerstörung des ersten Buchstabens des Alphabets am Morgen des 9. Dezember 2019 hallt nach wie ein stellvertretender Selbstmord. Am Ende desselben Tages fliegt der Künstler nach Weimar, wo er fünf Monate verbringt.

Philosophy is a can of whiskey rolling on a mouse wheel*
[Philosophie ist eine Dose Whiskey, die sich auf einem Mausrad dreht]

Worte können denjenigen verängstigen, der von ihnen lebt und sich an ihren Rhythmen betrinkt, sich über ihre Synästhesien und anderen Klänge lustig macht - bis hin zur Glossolalie, dem unverständlichen Sprechen. Wie in Weimar, wenn del (M)Oral Rivera in einem der immensen Räume des Gebäudes, das Hitler Nietzsche widmen wollte, lange Papierbahnen auf dem Boden ausrollt oder an den Wänden aufhängt. An diesem Freitag, dem 11. Oktober 2019, schlüpft der Künstler in der Aktion „Better not to speak“ in die Rolle des berühmten Philosophen, den er röcheln und durchdringende Schreie ausstoßen lässt. Der Künstler äfft die Haltung nach, die Nietzsche am Ende seines Lebens in Weimar gehabt haben könnte, nachdem er sich entschieden hatte, nicht mehr zu sprechen – und diese Weigerung verdeutlichte, indem er einen so langen Schnurrbart trug, dass dieser seinen Mund komplett verdeckte: die Lippen für immer hinter zugezogenen Vorhängen verschlossen.

For me, art is a different way of doing philosophy, of being in the world. I am interested in its critical and contemplative capacity.*
[Für mich ist Kunst eine andere Art zu philosophieren, in der Welt zu sein. Ich interessiere mich für ihre kritischen und kontemplativen Fähigkeiten.]

Geleitet von seiner Leidenschaft für Formulierungen gibt sich Victor der Litotes, der doppelten Verneinung, hin, dieser Perle der Rhetorik, die ein Maximum an Bedeutung in einem Minimum an Worten einzuschließen verlangt.

LE TEMPS DE RIEN (Richard Baquié)

Sometimes making something leads to nothing (Francis Alÿs)

Victor del (M)Oral Rivera gibt Wörtern einen Körper, um sich anschließend mit ihnen einen Nahkampf zu liefern; er zerpflückt sie in Grüppchen zu allerhöchstens fünf oder sechs, um Litotes und Palindrome zu bilden und spielt damit, den Sinn zu verwischen, den manche zufällige Zusammenstellung zu verstehen vorgeben könnte.

SOMOS*, YO SOY* und RECONOCER*
[WIR SIND, ICH BIN und ERKENNEN]

Drei Palindrome, für die der Künstler eine besondere Vorliebe hat und die er 2018 mit schwarzem Klebeband auf den Äquator schrieb.

Manchmal ist da ein isoliertes Wort, allein mit sich selbst und seinen Silben, die del (M)Oral Rivera laut wiederholt und auf den Kopf stellt, indem er bestimmte Phoneme mehr betont als andere. Oder Lautsequenzen, die er dadurch produziert, dass er der Reihe nach bei jeder Silbe des fortlaufend wiederholten Wortes die Stimme erhebt, um das Wort auseinanderzunehmen und zu zerstückeln.

Teresa aus no me inTeresa [Es interessiert mich nicht] verdreht und raubt den drei Wörtern ihren Sinn, um letztlich nur noch den Namen Teresa hören zu lassen.

Abbildung der Silbenbetonung, gefolgt vom Verdrehen und der Inbesitznahme des Sinns just vor den Augen des Zuschauers. Die Wörter ihren Sinn verlieren lassen, indem man von ihnen nur die Laute übrig lässt, die sie bilden. Dekonstruktion und Wieder-Zusammensetzen der Sprache, indem man sich einzig durch den Klang führen lässt, den sie besitzt, wenn man sie zum Leben erweckt.

La instalación es el paisaje de la acción, la acción es el lenguaje de la instalación.*
[Die Installation ist die Landschaft der Handlung, die Handlung ist die Sprache der Installation.]

¿El lenguaje es la estructura del pensamiento o el pensamiento la estructura del lenguaje?*
[Ist die Sprache die Struktur des Gedankens oder der Gedanke die Struktur der Sprache?]

Der verlorene Klang des Wortes desjenigen, der in seinem eigenen Kopf liest.

Mexico, den 20. Januar 2020


Michel Blancsubé ist ein unabhängiger Kurator mit Sitz in Mexiko-Stadt. Er war Assistenzkurator am Musée d'art contemporain in Marseille (1996-2001), Chefregistrator (2001-2012) und Kurator (2006-2015) der Fundación Jumex Arte Contemporáneo, Mexiko.

Der Beitrag ist der Publikation „Sprach|er|neu|er|ung + Wort|bild|kunst. Journal ACC Galerie Weimar 08|2019 – 05|2020“ entnommen, die in Kürze erscheint.

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