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  • Galerie und Kulturzentrum in Weimar
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Veranstaltungen

Die Ideale Ausstellung

Di., 20.10.2009, 20:00
Eintritt: 3 € / erm.: 2 € / Tafelpass: 1 €

Die Ideale Ausstellung_Pisetto

Lesedauer etwa 3:00 Minuten

Der Drang, «auszusteigen» und einem Ideal entgegenzufiebern, gehört zu unseren ältesten Wunschträumen. Welche visuellen Formen aber geben Künstler den irdischen Paradiesen heute, welche Idealwelten und Glücksversprechen entwerfen sie? Wie reagieren sie auf die Zerstörung von Idealen in unserer von Industrie und Konsumwirtschaft überformten Wirklichkeit? Fernando Claverías Escaleras de servicio (Serviceleitern, 2009) aus Wald- und Schwemmholz, Stricken und Kleidungsfetzen stammten von Menschen, die damit aus Afrika kommend die Festung Europas überwanden – einen 6 m hohen Zaun zwischen der ersten und der dritten Welt. Im filmischen Selbstporträt Berkeley’s Island (1999) hockte Guy Ben-Ner, wie ein moderner Robinson Crusoe in der eigenen Küche gestrandet, auf einer Sandinsel nebst Palme, von Freiheit träumend und den Beschränkungen des modernen Lebens ausgesetzt. Antti Laitinen baute sich in drei Monaten aus 200 Sandsäcken im Finnischen Meerbusen seine eigene Insel (It’s my Island, 2007) – eine Mikronation mit einem Staatsbürger – und hielt dies per Video und Foto fest. The Man Who Dreamed He Could Fly (Der Mann, der träumte, er könne fliegen; eine Linsenrasterfotografie Tina Fiveashs von 2009) versuchte, der Schwerkraft zu widerstehen und  scheiterte verträumt. Ho-Yeol Ryu hing in seinem digitalen Flughafentableau Airport (2005) gleich den ganzen Himmel über Hannover voller (Modell-)Jets, so dass kein Fortkommen mehr möglich war. Tropical Islands in Brandenburg, die künstliche Wildwassertour in Florida, die Kombination von türkischer Riviera mit Moskauer Basiliuskathedrale in einer Ferienanlage – das waren simulierte Urlaubs- und Freizeitwelten, die Reiner Riedler in Fake Holidays (2004 – 09) erkundete. Jede der 20 «Stellvertreterfiguren» auf Carsten Weitzmanns figürlichszenischem 13-Meter-Wandbild Heute ist Gestern und Gestern wird Morgen (2009) hatte ihren absurd überzogenen Auftritt, die Szenen verschmolzen zu einem Wald poetisch-surrealer Erzählungen. Hohenfelden bei Schwedt (1972) von Karl Hermann Roehricht entwarf ein insLiebliche gemaltes Stimmungsbild kleiner Idylle, auf die es im Leben so oft ankommt, wenn dieIdeale versagen. Knut Birkholz stellte einen Ausschnitt aus einem originalen Atlas Eclipticalis 1950.0 des Astronomen Antonin Becvar von 1948 einer autobiografisch geprägten Prosareflexion
zu idealer Architektur gegenüber. Angelehnt an eine «Idealstadt des 18. Jahrhunderts» entwickelte Walter Determann einen Entwurf für eine Bauhaus-Siedlung Weimar (1920). Als Cowboy ritt Rodney Graham im Breitwandstreifen How I Became a Ramblin’ Man (Wie ich ein Wandersmann wurde, 1999) bummelnd durch die Prärie, um letztlich innezuhalten und seine Melancholie vom einsamen Landleben zu trällern. Ein Kupferstich, Der ideale Pflanzentypus von François Plée (1804), daneben eine Radierung mit einer Baumgruppe – Palme, Pinie, Zypresse und Laubbaum – von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751 –1829), repräsentierten die «ideale Natur» ebenso wie Sebastian Brandts Waldrand mit Fenster (2009) aus Pflanzenpräparaten, Tierdermoplastiken und Naturgeräuschen. Sieben Ölzeichnungen der Serie Jardins (Gärten, 2004) auf beschrifteten Notenheftseiten und drei fotobasierte Monotypien auf Papier, Paysages Incertains (Unbestimmte Landschaften, 2009), bildeten François Burlands innere Landschaften ab. Jean Jacques Avrils (1744 – 1831) Kupferstich Apollo in arkadischerLandschaft an einem Wasser sitzend und die Lyra spielend, bei ihm Schwäne und Putten (1779) war Nicolas Poussin, dem Meister der ausgewogenen Komposition, nachempfunden.  Vier  männliche Kopfstudien (1787 – 88) gewährten Einblick in Johann Wolfgang von Goethes physiognomische Untersuchungen. Der weithin unbekannte Jurist Christian Gottlieb Priber (1697 – 1748) verließ wegen seiner Ideen in den 1730ern seine sächsische Familie in Zittau und floh nach Amerika, wo er von den Cherokee-Indianern aufgenommen wurde. Erst dort konnte der Ethnologe, Frühaufklärer und Sozialutopist seinen weltlichen Entwurf eines idealen Gemeinwesens als Königreich Paradies unter Gleichgesinnten in die Praxis umsetzen. Meine ideale Welt – zimmere ich mir selbst (2009) meinte Cornel Wachter und baute sich ein fragiles Refugium, um sich «abzuschotten von so viel ungesunder Anpassung und Wirklichkeitsver-zerrung » und um in sich gekehrt Gutes zu (be)fördern (dann stieg «fumata bianca» aus dem Verschlag). Von der Gemeinschaft der Shaker («Hands to work and Hearts to God») zeugten ein ledergebundenes, handgeschriebenes Gesangbuch, eine ovale Schmuckschachtel (shaker box), Papiertütchen für Gurkensaatgut und Dokumente aus dem Hancock Shaker Village. Die 250 Mitglieder starke Oneida Community (1848 – 1880) teilte allen Besitz, alle Arbeit, Verantwortung und Liebe, was 15 historische Photographien aus dem Oneida Community Mansion House illustrierten. Das Lichtbildband mit Weltkarte Livin ’topia – reale Orte des Idealen? (2009) von Katja Meyer /Ann-Kathrin Rudorf stellte 50 gelebte Ideale eines gemeinschaftlichen Zusammenlebens aus aller Welt vor. Michelangelo Pistolettos Venere degli stracci (Venus in Lumpen, 1967), die Betonguss-Replik einer makellosen, nackten Liebesgöttin, war einem Berg abgelegter Kleider zugewandt, drohte in ihm zu verschwinden, daneben die Schwebende Venus Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins. Zusammenprall der Zivilisationen (2006), eine Filmrecherche der Menschenrechtsorganisation PRODEIN, dokumentierte die verzweifelten, teils tödlichen Fluchtversuche von Afrikanern nach Europa und die dramatische Situation am Rande der spanischen Exklave Melilla in Marokko. Elysa Lozanos Autonomous Organization bot dem ACC mit der Dienstleistung Das Neue Zeitgenössische Kunstmuseums-beratungsprojekt: Ein neues ACC Weimar (2009) an, fußend auf anarchischen Prinzipien, einen hierachielosen Kunstraum zu schaffen. Das Personal sollte das Haus verlassen und ganz von vorn anfangen.

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