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Ausstellungen

Die Kunst erlöst uns von gar nichts

Ausstellung So., 09.07.2006–So., 17.09.2006

Lesedauer etwa 3:22 Minuten

Javier Abreu (UY) / Narda Alvarados (PE) / Esteban Álvarez & Tamara Stuby (AR) / Lourival Batista (BR) / Marcelo Cidade (BR) / Cine Falcatrua (BR) / Claudio Correa (CL) / Máximo Corvalán (CL) / Juan Manuel Echavarría (CO) / Proyecto Venus (AR) / Demian Schopf (CL) / Eduardo Srur (BR) / Javier Téllez (VE) / Ernesto Vila (UY)

In Zusammenarbeit mit Paz Aburto Guevara (CL) / Clio Bugel (UY) und Cristiana Tejo (BR) | unter Mitwirkung von Charlotte Seidel (DE)

In Juan Manuel Echavarrías ergreifenden Videoporträts Bocas de Ceniza (Münder aus Asche, 2003) sangen sieben überlebende, armselige, afrokolumbianische Bauern selbst erfundene Lieder von Massaker, Verschleppung, Schmerz und Verlust, aber auch Glaube, Hoffnung und Dankbarkeit. Ihr Leben wurde zerrieben zwischen den Fronten der sich bekriegenden kolumbianischen Militärs, der von mächtigen Drogenkartellen finanzierten rechten Paramilitärs und linker Guerillatruppen – wie letztmalig das der europäischen Bauern im Dreißigjährigen Krieg.

Überall in der Ausstellung stieß man auf rollende Betonblöcke (Monoblocks, 2006), mobil und doch nur schwer fortzubewegen, und ein kleiner Berg aus Mörtel mit einer Schaufel ließ an unterbrochene Bauarbeiten denken (Marcelo Cidade: Der Mann, der sich sein eigenes Haus baut, ist ein freier Mann, 2006).

In der Videoinstallation Bounced (2000) von Javier Téllez wurde die Nahaufnahme eines psychisch Erkrankten zur Projektionsfläche und Zielscheibe von abgefeuerten Tennisbällen und rückte eine an den Rand gedrängte Gruppe der Gesellschaft trotz Tabubruchs ins Zentrum des Geschehens.

Claudio Correas improvisierter Buch-Apparat Bipolar (2006) aus der Reihe „Kranke Maschinen“ mechanisierte den manuellen Gebrauch des Buches und ließ es auf- und zuklappen, wodurch der Begriff der chilenischen „Unabhängigkeitserklärung“ die Vorsilbe „Un“ (also „In“) verlor und in eine Erklärung der Abhängigkeit (Declaración de (In)dependencia) überführt wurde – eine Anspielung auf die neokoloniale Abhängigkeit Lateinamerikas.

Acht weiße Laborratten wuselten durch Máximo Corvaláns Bestia Segura (2001), einer Art Bettgestell aus durchsichtigen, zusammengesteckten, bunten Plastikröhren, auf dem eine Gestalt aus denselben Röhren lag. Per Minikamera wurde das Treiben der Ratten im geschlossenen System permanent überwacht und groß auf eine Wand projiziert. Zugleich verwies das „Sichere Biest“ auf den „Grill“, auf dem Pinochets Geheimdienstagenten Gefangene während des Verhörs „elektrifizierten“ und folterten, indem sie Ratten in den Körper einführten.

Im Video Noninoninono (2002) dokumentierte Lourival Batista, wie er während des brasilianischen Präsidentschafts- und Gouverneurswahlkampfes 2002 des Nachts mit Freunden die Großplakate der Kandidaten mit Farbkanonaden unkenntlich machte. Nach Weimar flog er mit der Halskette Collier du Mozambique (2006) aus Eisen und ein wenig Marihuana, um auf Reisen und in der Performance Artrafic (2006) die subtile Grenze zwischen einer global legitimierten Handelsware – Kunst – und etwas Illegalem auszuloten. Für einige Tage verwandelte er die Ilmlandschaft an der Sternbrücke in die poetisch-chaotische Kulisse Varal (2006) – mit Dutzenden Kleidungsstücken, die, von der Bevölkerung gespendet, zur Ansammlung persönlicher Erinnerungen auf einer langen Leine wurden.

Eduardo Srur ging seine „Attentate“ (Atentado, 2004) auf Mode-Billboards in São Paulo geplant und bei Tage an. Geradezu genüsslich befestigte er seine Farbbeutel mit Paketband in den schönen Visagen überlebensgroßer Models, legte Lunte an und zündete diese mit dem Feuerzeug. Die Orgie aus Farbexplosionen, einer Kreuzung aus Action Painting und Street Art, begleiteten coole Rhythmen des Bajo Fondo Tango Club.

Javier Abreu begab sich zur Vernissage in die Uniform eines McDonalds-Angestellten, um in seiner Performance El empleado del mes (Der Angestellte des Monats, 2006) als Legehenne in parodistisch-überzogener Manier das Leistungs- und Belohnungssystem dieses Weltkonzerns vorzuführen. Seine Pyramide aus 365 Thunfischdosen Official Food Uruguay 2006 (2006) karikierte das soziale Notstandsprogramm des uruguayischen Präsidenten Tabaré Vázquez.

Die brasilianische Gruppe Cine Falcatrua („Kino Schabernack“) stellte sich als mobilen Projektionsraum mit gebastelter Filmvorführausrüstung und freien öffentlichen Screenings vor, pries das Internet als Quelle der Aneignung von Filmen und erteilte Ratschläge zu deren Download, Verteilung und Vorführung im autarken Do-it-yourself-Selbstversorger-Heimkino.

Lara Correa und Berenice Berenice präsentierten als deren Mitglieder die selbstverwaltete Mikro- oder Parallelgesellschaft Proyecto Venus aus Buenos, ein Netzwerk von etwa 500 Personen mit eigener Währung (Venus) und eigenen Regeln für den Austausch von Gütern und Dienstleistungen, das seine ideellen Wurzeln im „abbaubaren Freigeld“, bei Silvio Gesell (1862-1930) und dem „Münchner Sowjet“ hatte.

Esteban Álvarez & Tamara Stuby hatten argentinische Geldscheine auf grafisch subtile Weise mit geometrischen Motiven verziert (Valores Nominales, seit 2005), die von den potenziellen Empfängern (Bäcker, Taxifahrer, Wäschereinigung) umstandslos akzeptiert wurden. Wurden sie doch einmal abgelehnt, entließen die Künstler sie aus dem Kreislauf der Geldzirkulation, um sie in den Tempel der Kunst zu überführen – geradezu komplementär zum Vorgehen Duchamps, gewisse Alltagsgegenstände („Readymades“) kraft künstlerischer Sanktion zur Kunst zu erheben.

In Narda Alvarados Videoperformance Olive Green (2003) blockierte eine Formation junger Verkehrspolizisten eine verkehrsreiche Allee in La Paz, um unter dem wütenden Gehupe der Autofahrer auf Befehl eine grüne Olive zu verzehren.

Der bewaffnete Erzengel in Asiel Timor Dei (Engel mit Arkebuse, 2006) aus Demian Schopfs, von barocker Erzengelmalerei in Cuzco inspirierter Serie fotografischer Inszenierungen „Die Stille Revolution“ kann als Symbol für die kulturelle Konstante des Einschleichens westlicher Ideologien nach Lateinamerika gelten.

Fundstücke von Montevideos Straßen formen als Alltagsfragmente Ernesto Vilas Universum, in dem die schweigenden Geister der Vermissten von Uruguays Militärdiktatur (1973-1985) fortleben – als Silhouetten (Desimagenes, 2006), gemalt auf oder geschnitten aus Altpapier.

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