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Ausstellung Sa., 08.03.1997–So., 20.04.1997
Lesedauer etwa 2:24 Minuten
Tatjana Bergelt (DE)
Mit siebzig Malereien (und einem großen Wandgemälde), Collagen, Grafiken, Büchern, einer Installation aus Fußabtretern und ihrem ersten Katalog wurde Tatjana Bergelts Nomadenleben zwischen Halle, Tallinn, Paris, Barcelona, Moskau, Weimar und Berlin im ACC stationär behandelt. Spätestens seit Beginn der politischen Veränderungen in Ostdeutschland, die zeitlich mit dem Abschluss ihres Kunststudiums zusammentrafen, führte die zweisprachig aufgewachsene und familiär von der russischen Kultur geprägte Künstlerin ein ausdauerndes Pendlerleben. Der s /w-Super-8-Film Babulja (1997) ihres Bruders Andre Bergelt konfrontierte uns mit deren russischer Großmutter. Bei einem Unfall in Barcelona zog sich Tatjana Bergelt eine Fußverletzung zu. Dieses Handicap fürs Leben führte zu einer intensiveren Beschäftigung mit der Zerbrechlichkeit von Beziehungen, der Relativität von Standpunkten und dem Bedürfnis, beständige Positionen zu beziehen. Menschliche Körper in ihrer Isolation, ihrer Suche nach Halt und Geborgenheit, ihrem Zweifeln und ihrer Verletzbarkeit in der Wechselwirkung miteinander bestimmen Bergelts emotional geprägte innere Bildsprache. Farbschichten wurden lasiert oder übermalt, angedeutete, teils unproportionale Figuren balancierten zwischen gezielter Aktion und verhaltenem Zögern: Leitmotive, die bereits in Bergelts ikonenverwandten Malereien der Pariser Zeit und ihren Moskauer Collagen auf Notenpapier Spindler, Romanzen, Grieg und Beethoven (alle 1996) auftauchten. Vieles in Tatjana Bergelts pastellierten Lithografien wie Engelsmäuler – Paradais (1994) und Das fünfte Kind (1996) oder in den Mischtechniken Gandalf der Grosse, Heinrich im Regen, Schrittlos (alle 1995), Der Gang, Stilles Wasser, lautes Wasser (beide 1996) und Ein finster Wolke für sein Angesicht (1997) sowie in ihren Buchobjekten wie Le Don – Illustrationen zu Gedichten von Jacques Prévert, Idu w Put (beide 1993), 15 Seiten Wunderschön, So schön wie Hamlet rückwärts und Das schöne Haupt gebückt (alle 1996) „ist Andeutung, ohne auch gestalterisch Fragment bleiben zu müssen: Andeutung eines Gegenstandes, einer Berührung, eines Gesprächs oder eines Weges, ohne das Ziel schon genau zu kennen. Weil sie nicht festlegen will, was offen und schweifend bleiben muss – um atmen zu können oder weil ihr Befinden die Ruhe einer klassischen Ponderation der Kräfte nicht kennt. (…) Wer lärmend auf diese Bilder zu rennt, dem kommt kein Ton entgegen, ihre Sprache erscheint mir wie Flüstern oder inneres Sprechen, auch mal ein zaghaftes Lachen, wenn beispielsweise eine absurde Armee der Ärmel in der Imagination aufmarschiert. (…) Mal streckt ein viel zu langer Arm seine Hand ins Nichts, Körper vollführen anatomisch unmögliche Bewegungen, irgendwo schweben Körperfragmente im Farbenäther, Füße von Mitgliedern einer eigenartigen Prozession verdoppeln sich. (…) Zwar teilt sich mir eine hockend umrissene, einzelne Figur in einem nicht näher bestimmten Farbraum als ein In-Sich-Gekehrtes mit, als Haltung der Kontemplation vielleicht, und Füße konnten für Unterwegs-Sein stehen, aber was mögen zwei Kopfsilhouetten ohne Körper schon sagen oder eine übergroße Hand? Es sind eigentümlich intime und deshalb zweideutige Signale, in einem Zustand gebildet, der der Schaffenden nur halb bewusst wird. Aller Schutzschilde ledig öffnet sich, zögernd, ein verletzbares Inneres und gewährt mir Einblick in Wünsche, Träume, Ängste und Visionen gleichermaßen: Ankommen wollen, doch in welcher der vielen möglichen Welten?“ (Kai Uwe Schierz) Die Offenbarungen von Unter der Haube, Hüte dein Gesicht oder Ins Ohr geträufelt (alle 1995) blieben Andeutungen, Adressat ungewiss. „Ein Teil aller Flaschenpost treibt stets weiter auf dem Meer, zwischen den Kontinenten von unsichtbaren, doch mächtigen Strömungen getrieben. Jener Teil kommt nie an.“ (Kai Uwe Schierz) Literat Frank Willmann las aus seinem Gedichtzyklus thüringen und ICH, zu dem Bergelt ein Buch mit elf Farblithographien (1997) handfertigte. Ihr Bruder Andre stellte den Kurzfilm sagen ist nicht sagen ist (1997) und im Streifen füssE (1997) fünf aus dem Leben gegriffene Episoden aus der Fußperspektive vor.