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  • Galerie und Kulturzentrum in Weimar
  • So–Do 12–18, Fr–Sa 12–20
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Ausstellungen

GEMEINSCHAFT – GESELLSCHAFT

Ausstellung Sa., 20.02.1999–Di., 20.04.1999

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Lesedauer etwa 2:08 Minuten

4. EUROPÄISCHES ATELIERPROGRAMM 1998 | ACC GALERIE UND STADT WEIMAR

Bettina Allamoda (DE)

Esra Ersen (TR)

Apolonija Šušteršič (SI)

Programmleiterin: Mary Rozell (Weimar)

Ferdinand Tönnies, «Klassiker» der deutschen Soziologie, beschrieb 1887, in einer Zeit der Industrialisierung, das Auftauchen der «Gesellschaft» und ihren Bezug zur Zerstörung der «Gemeinschaft». Sein Werk verrät die Sehnsucht nach neuer Gemeinschaft, eine Nostalgie nach verloren gegangenen gemeinschaftlichen Formen. Nach der Geburt des Cyber Space können ähnliche Überlegungen zu den Begriffen «Gemeinschaft» und «Gesellschaft» angestellt werden. Führen neue Technologien zum Zusammenbruch der Gemeinschaft und Verfall der Kreativität? Kommentare des argentinischen Autors Jorge Luis Borges über eine chinesische Enzyklopä- die, in der Tiere in verschiedene Gruppen, wie «herrenlose Hunde» oder «die sich wie die Tollen gebärden», klassifiziert sind, wonach jeder beliebigen Erkenntnis die Errichtung einer Ordnung zugrunde gelegt werden kann, übertrug Esra Ersen in Die keinen Ort haben (1999) auf lateinisch beschriftete Steinplatten – und setzte jene «Ausstellungsgäste» angesichts der Unmöglichkeit ihres kategorischen Erfassens im Galeriekontext in neue Relationen. Denkmalpflege und Hausbesitzer untersagten eine Realisierung an der ACC-Fassade. Die Nachbargemeinschaft aus der Straße ihres Weimarer Ateliers – aus einem Altenheim und einer Behinderteneinrichtung – lud Esra Ersen am 1. Mai 1998 zu einem (reserviert aufgenommenen) Festessen an der Weimarer Sternbrücke ein: Ihre Süßspeise As¸ure (1998) wurde nach islamischem Glauben einst schon von Noah aus letzten Vorräten der Arche zubereitet, als die Flut vorüber, also überlebt war. Die Farben, die den Toten gefallen oder Die andere Stadt (1998) untersuchte die Bepflanzungsweise der Weimarer Gräber(-Gemeinschaft), auf denen «häufi ger die Spuren des Lebens zu finden sind als in individuellen Gärten», deren «wortlosen Dialog» und «Wettbewerbsverhalten» zwischen ihnen Ersen auf Teppichen reproduzierte. Der Weimarer Friedhof war direkt gegenüber ihrem Atelier. Im Bauhaus-as-ready-made (1999) «recycelte» Bettina Allamoda einen Regalschrank (aus ihrem Weimarer Atelier) zur funktionalen Skulptur. Innerhalb eines «White Cube» dokumentierte ein TV-Gerät, eingepasst ins einst begehrte Möbelstück aus Hellerau, per Video die Verwandlung des ursprünglichen «White-Cube»-Charakters des seit 1998 verlassenen Hauses am Horn in seinen eher funktionalen, heutig-häuslichen Gebrauch mit anliegendem Garten. Allamodas Video-Audio-Installation Performance Collage: Bauhaus Performance (1999) war ein Gastspiel des Bauhauses in der Weimarer Gegenwart, war Fiktion und Fantasie, eine Filmcollage über Baudenkmäler in Weimar seit den 1920ern – Haus am Horn, Oskar-Schlemmer-Fresko im van-de-Velde-Bau –, aber auch Bauhaus Dessau und Siedlung Törten, kombiniert mit eher obskuren «Monumenten» - Innenhof des Hotels Elephant, in Buchenwald gebräuchliche Garten zaunpfähle. Schnitttechnik und Perspektiven betonten die Bauhaus-Sachlichkeit, im spielerischen Kontrast dazu wandelte Allamoda wie eine Gameshow-Hostess im Pailettenkleid, mit 1970er-Make-Up und High Heels unter psychedelischen Klängen zwischen den Schauplätzen vor der Bildfläche hinter ihr, was wiederum abgefilmt und erneut projiziert wurde. Die Rauminstallation VideoCinemaCity oder Was man nach sieben Uhr machen kann (1999) von Apolonija Šušteršič, eine Mischung aus Wohnzimmer und Filmtheater mit funktionierender Popcornmaschine und ersteigertem Klappgestühl, verleitete die (Besucher)Gesellschaft unterhaltsam-ironisch zum Nachdenken über eigene kulturelle Werte. Der Kinovorhang öffnete sich, doch der Film fand nicht statt. Stattdessen sah man gegenüber auf einem TV-Gerät Ausverkauf (1998), Demontage und Abtransport des in elementarste Teile zerlegten Weimarer Kinos «Haus Stadt Weimar» durch die Bürger selbst – pünktlich zum Kulturstadtjahresbeginn. 

Peter Herbstreuth (Berlin), Dr. Petra Lewey (Zwickau), Mary Rozell (Weimar) und Dr. Rüdiger Wiese (Weimar) hatten als Juroren die Stipendiaten dieses Atelierprogramms ausgewählt.

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