Karl Heinz Jeron
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Karl Heinz Jeron ist bekannt für seine Installationen mit modifizierten Tierskulpturen, so genannten Animatronics. Die Weimarer Produktion des Berliners begann im Februar 2017. Zunächst fragte sich Jeron: Wie in Kontakt zu meinen Gastgebern, den Weimarerinnen und Weimarern, treten? Mittels Zeitungsinserat «Schwein haben: Schweineobjekte gegen Abendgestaltung» versuchte er Leute zu erreichen, die nicht zwingend im Kunstbetrieb zuhause sein sollten. Er versprach, ihnen ein Kunstschwein zu kredenzen, wenn sie als Gegenleistung bereit seien, ihm ein kulturell-unterhaltsames Angebot zur gemeinsamen Freizeitgestaltung zu unterbreiten und das Schwein als Leihgabe für eine spätere Ausstellung, nämlich diese hier, noch einmal zur Verfügung stellten, um sie in eine Installation einzubetten, die ca. 40 jener rustikalen Plastiken umfassen würde. Das Konzept trug Früchte, die Begegnungen fanden statt: Er wurde beispielsweise zu einer Whiskeyverkostung, einem Theaterabend, einer alternativen Stadtführung, einem Abendessen als Gast an fremdem Herde oder einem Gesprächsabend mit einem Historiker der Gedenkstätte Buchenwald eingeladen — und hatte in Weimar eine wunderbar produktiv-gesellige Zeit.
Karl Heinz Jeron: «Es ging mir um eine Art Metabolismus, ein Verdauen von Alltag, Zitaten und Daten, um einen Assoziationsrahmen für eine neue Annäherung ans Thema Revolution zu schaffen. Ich knöpfte mir Texte vor und schuf auf deren Grundlage neue Bedeutungen: Der Zitatenreichtum von George Orwells «Farm der Tiere» und Wladimir Iljitsch Lenins «Zwei Schritte vorwärts, ein Schritt zurück» sollte meine Animatronics und ihr absurdes Theater mit verbalem Leben erfüllen — und Schweine würden diese Akteure sein, die ja in der «Animal Farm» eine große Rolle spielen. Orwell sagte, in seiner Erzählung sei die Hauptfigur Old Major ein Hybrid aus Lenin und Marx. Also musste ich eine Methode zur Herstellung vieler Schweine finden … die Betonskulptur schien mir geeignet. Während der Kreation Dutzender Schweineminiaturen kam es in meinem Atelier immer wieder zu «Gewaltakten», Kunstkommentaren zu Gewalt: Betonschweine wurden gesteinigt, geköpft, angezündet oder ans Fahrrad gebunden über den Hof gezerrt …» In der Ausstellung bewegen die Figuren sich teils, teils wurden sie zerstört oder hängen einfach «leblos» von Irgendwo herab.
Einige Schweine können Textfragmente aus George Orwells «Animal Farm» (1945) und Wladimir Iljitsch Lenins «Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück» (seine Kritik an der Partei der Bolschewiki, 1904) rezitieren. Das den Texten zugrunde liegende Motto ist ein Lenin-Zitat: «Aber jeder kleine Unterschied kann ein großer werden, wenn man darauf besteht». Es geht um Störformen im Sozialverhalten. Die Originaltexte werden mittels Markow-Algorithmus verändert, sodass neue Bedeutungen erzeugt werden, welche keinen kausalen Sinnzusammenhang ergeben müssen. Eine Markow-Kette ist darüber definiert, dass auch durch Kenntnis einer nur begrenzten Vorgeschichte gute Prognosen über die zukünftige Entwicklung möglich sind … Neue Bedeutungen werden erzeugt, eine Art absurdes Theaterstück entsteht, das auf die schwierigen Überlegungen bei Fragen wie jener nach der Notwendigkeit von Veränderungen aufmerksam macht. In Orwells «Animal Farm» repräsentiert der Charakter Old Major (ein Schwein) Lenin. Orwell erdachte sich für Old Major einen ähnlichen gesellschaftlichen Hintergrund wie ihn Lenin besaß. Old Major ist ein angesehenes Tier auf dem Bauernhof; Lenin stammt aus dem russischen Bildungsbürgertum. Paradoxerweise sind sie beide für die Revolution in ihrem unmittelbaren Umfeld verantwortlich. Ebenso wie Lenin die Russen mit Hilfe des Kommunismus dazu bringt, eine Revolution auszurufen, überzeugt Old Major auf der Grundlage des «Animalismus» die Tiere davon, zu rebellieren. Allerdings gibt es einen großen Unterschied zwischen Old Major und Lenin: Old Major stirbt drei Nächte nach seiner Rede, er nimmt nicht mehr teil an der Übernahme (Oktoberrevolution) oder der Schlacht vom Kuhstall (Bürgerkriege). Ganz im Gegensatz zu Lenin, der während der revolutionären Jahre dabei war.
Bild: http://www.kunstradio.at/BIOS/jeronbio.html