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Künstler*innen

Rémy Markowitsch: CASTAGNE, 2008.

Rémy Markowitsch

CH, geboren 1957

Lesedauer etwa 3:37 Minuten

Ein in dieser Kombination bislang ungesehener Werkkomplex Rémy Markowitschs befasst sich mit Ernährung, Politik und Literatur und verschränkt Vegetarisches wie Fleischliches anspielungsreich miteinander. Inspiriert von Flauberts „Bouvard und Pécuchet“ ist das Video „Schaschlik“, welches literarische Geschichten zum Thema Fleisch wie am Spieß aneinanderreiht. „The Good, The Bad and The Ugly“ setzt einem zusätzlich visuelle Fleischhappen vor, flankiert von der Skulptur „Onion Option“. Die wirtschaftliche und politische Sprengkraft der Zwiebel verursachte 1637 den weltweit ersten Börsencrash auf dem holländischen Tulpenzwiebelmarkt (selbst Rembrandt trieb dies in den Ruin), die rapide Steigerung des Zwiebelpreises 2004 führte in Indien zum Regierungssturz. Das großformatige Werk „European Option“, dass eine Tulpenblüte zeigt, verweist auf jenes historische Ereignis. Laute des Weinens und Wimmerns, die aus einem wie eine Dusche anmutenden Raum erklingen, spielen mit der Eigenschaft der Zwiebel, zu Tränen zu rühren – zu hören sind die klagenden Einlagen aus Hollywood-Streifen. Eine „Castagne“, die vormals das Dach einer von Markowitsch in den Alpen gebauten afrikanischen Rundhütte krönte (zu finden in der Galerie als Take-away-Postkarte) macht den visuellen Dreiklang komplett – und sorgt vor allem in den Abendstunden in den Bäumen am Burgplatz für eine atmosphärische Stimmung. „Handmade“ dokumentiert auf drei Monitoren fast der Vergangenheit angehörende Methoden der Fleisch- und Fischbehandlung auf Straßenmärkten Pekings. Und in „Little Shop of Horrors“ findet die gierige Pflanze aus dem Horrorklassiker voll Fleischeslust ihren vorläufigen Höhepunkt.

Eine übergroße „Castagne“, die vormals das Dach einer von Rémy Markowitsch in den Alpen, im schweizerischen Bergell, gebauten afrikanischen Rundhütte wie ein Fetisch krönte, lässt den Burgplatz erstrahlen.

Erhellend ist auch die riesige Zwiebel, die ein schwarzes Kabinett erfüllt – ebenso die Erkenntnis, dass die rapide Steigerung des Zwiebelpreises 2004 gar zum Regierungssturz in Indien führte. Die wirtschaftliche und politische Sprengkraft der Zwiebel verursachte bereits 1637 den weltweit ersten Börsencrash auf dem holländischen Tulpenzwiebelmarkt (selbst Rembrandt trieb dies in den Ruin), wie das Bildnis einer rosaroten Tulpenblüte („European Option“) andeuten.

Mit einer Art Turban ausgestattet, erinnert ein immerfort laufender Brausekopf im Video „Bubbles and Tears“ ans Volk der Osmanen, die die Tulpenzwiebel nach Europa brachten – aus einem Land der Wüste, wo Wasser wiederum ein rares Gut ist. Der O-Ton von Schluchzern aus aufwändigen Spielfilmproduktionen erklingt aus dem an eine Dusche erinnernden Raum – neben der simplen Assoziation des tränenreichen Zwiebelschneidens oder Wasserverschwendens öffnet sich auch eine politisch-ökonomische Dimension. Was den ersten Börsencrash auf dem Zwiebelmarkt mit Hollywoods Filmindustrie verbindet ist – neben einem osmanisch verkleideten Duschkopf – das ambivalente Spiel zwischen Verzweiflung und purer Euphorie, Drama und Komödie, Macht und Lust, Glück und Unglück. Was wäre das eine ohne das andere? Was wäre ein Verkäufer ohne seinen Käufer?

Ähnlich wie auf dem Tulpenzwiebelmarkt des 17. Jh mag es auf den Straßenmärkten Beijings zugegangen sein, deren Treiben Markowitsch in den drei Videos der Arbeit „Handmade“ dokumentiert. Die der Vergangenheit angehörenden Methoden der Fleisch- und Fischbehandlung hatten dort aber schon bald ein Ende – nach der brutalen Räumung des Marktes wurde ein Supermarkt des 21. Jh auf dem Areal errichtet.

Einen Meister des Marktes, der Produktion, des Handels porträtiert eine weitere großformatige Arbeit: verschwommen und überlagert von der Fotografie eines Ölfeldes mit Bohrtürmen der von John D. Rockefeller gegründeten Standard Oil Company zeigt sie den berühmten Autoproduzenten Henry Ford. Ihm kam – was wohl die Wenigsten wissen – beim Besuch eines Chicagoer Schlachthofs, wo Tiere in ihre Einzelteile zerlegt wurden, die Idee, jenen Prozess umzukehren – und Automobile erstmals Stück für Stück zusammenzubauen. Dies war die Geburtsstunde der wichtigsten Begriffe des Kapitalismus, für die Henry Ford berühmt werden sollte: die Fließbandarbeit, Massenproduktion, der Fordismus, welcher wiederum mit dem „für alle“ erschwinglichen Automobil die amerikanische „Fleischwerdung“ auf dem Rücksitz lustvoll vorantrieb. Weniger berühmt ist Ford jedoch für seinen ausgeprägten Antisemitismus. 1938 erhielt er das Adlerschild des Deutschen Reiches, die damals höchste Auszeichnung für Ausländer – und die Ford Motor Company war im Fertigungswerk in Berlin ein gern gesehener Produzent von Autos und Kettenfahrzeugen für die Wehrmacht. Der Titel des Werks „The International Jew“ bezieht sich auf eine von Henry Ford 1920 publizierte Hasskampagne („The International Jew: The World's Foremost Problem“) gegen die jüdische Bevölkerung. Dass Ford maßgeblich an den Kriegsvorbereitungen der Nazis teilhatte, nach Kriegsende aber Rückzahlungen für die Bombardementschäden durch deutsche Flieger erhielt, ist eine jener absurden ökonomischen Wechselwirkungen, die sich im Werkzyklus Markowitschs andeuten. Was mit der Zwiebel beginnt, zur Tulpe heranwächst, deren ökonomische Tragweite in die Wirtschaftsthematiken einschließlich der Autoindustrie münden lässt, schließt – in Anspielung an die Fleischstücken, die Ford in der Schlachterei begegneten – ab mit dem u.a. von Flauberts „Bouvard und Pécuchet“ inspirierten Video „Schaschlik“, welches literarische Zitate zum Thema Fleisch wie am Spieß aneinanderreiht. „The Good, The Bad and The Ugly“ (1994) bezieht sich auf das in den 1990er Jahren neu entstandene „Todesbewusstsein“ beim Verzehr von fleischlicher Nahrung wegen des aufkommenden Rinderwahns und auf das Dilemma, Unverseuchtes von Verseuchtem zu unterscheiden.

Neben all den historischen, literarischen und politischen Diskursen, die von der gegebenen Thematik ausgehen, wird vor allem eines deutlich: Rémy Markowitsch schafft in der Galerie auf engstem Raum einen dichten Kosmos, der nicht nur Jahrhundert(ge)schichten übereinander lagert, sondern mit dem größten ästhetischen wie intellektuellen Anspruch die Politiken und Freuden des Essens ineinander verschränkt.

Tod und Eros, Sublimation, die Vereinigung zwischen Vegetariern und Omnivoren – all das reizt Markowitsch an der künstlerischen Beschäftigung mit Politiken und Freuden des Essens.

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