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  • Galerie und Kulturzentrum in Weimar
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Veranstaltungen

HAUTNAH

5. EUROPÄISCHES ATELIERPROGRAMM 1999 | ACC GALERIE UND STADT WEIMAR 15. April bis 04. Juni 2000

Sa., 15.04.2000–So., 04.06.2000

Lesedauer etwa 2:14 Minuten

Den vielleicht bedeutendsten Beitrag des Dichters, Denkers und «deutschen Voltaire» Christoph Martin Wieland (1733 – 1813) bildete dessen «erotische Aufklärung». Heute ist der Mensch nicht mehr eingeengt durch die Zwänge der Tugendhaftigkeit. Tabus und moralische Grenzen scheinen aufgelöst. Gewinnt unser Leben dadurch mehr an Sinnlichkeit und Erotik? Nach wie vor ist die transitorische Hülle der «Haut» die letzte gegebene Grenze gegenüber unserer Umwelt. Den ersten Entwicklungsroman der Aufklärung Die Geschichte des Agathon (Wieland) verfasste Dimitrios Antonitsis, teils mit Wielands Originaltexten, als 160-seitigen Fotoroman Agathon or Panic in Weimar (2000) neu, setzte den Plot von der griechischen Mythologie ins heutige Weimar, kombinierte Modelästhetik, Wirtschaftswerbestil und High-Society-Gebaren mit der Brutalität von Nazi-Vergangenheit und KZ Buchenwald, zeigte die latente, subtile Erotik der Gewalt und den fortschreitenden Verfall humanistischer Ideale. Halb Weimar und Berlin – von Tim Fischer über Desiree Nick bis Zazie de Paris, von Polizeichef Ralf Kirsten über die Band Rockpirat bis zur Zwiebelmarktkönigin Inka Walter – posierten für über 2.000 Fotos. Ein Buchseitenfries stellte den Bildroman im Vorab vor. Das Video Dirty Soap (2000), gedreht im Stil einer «Seifenoper», aber ohne Worte, spielte bewusst mit diversen Assoziationen zu Haut (wie in Rasse) und zu Seife, vom Reinigungsmittel bis zum Nazi-Slangwort für Juden, sprach den Schrecken des Nationalsozialismus und das Unvermögen der Deutschen an, ihr kollektives Schuldbewusstsein durch wiederholte Waschung abzulegen. Ständige Seifungen und Waschen Monika Dutta: Vier Frauen wohnen in meinem Kleiderschrank, der Haut symbolisieren den vergeblichen Versuch, sich von Vergangenheit zu säubern. Gezeigt wurde u. a. Ilse Koch, die so genannte Hexe von Buchenwald, inmitten einer Gruppe von Lagerinsassen, die, Seifenblasen in die Luft pustend, eine aufreizend-obszöne Tanzszene um das Buchenwaldmahnmal aufführt. Vier Frauen wohnen in meinem Kleiderschrank (2000) zeigte vier Kleider aus Gardinenstore im Schrank und ein Video mit Monika Dutta, die je nach getragenem Kleid ihre Großmutter, die aus Jena stammende Mutter, die Schwester und sich selbst bei typischer Tätigkeit spielte. Ein zweites Video verfolgte den Verlauf des Sonnenlichts auf den Wänden ihrer Weimarer Wohnung, zeichnete dessen Schattenmuster auf ihrem selbstgenähten Kleid nach. Dutta fertigte eine Serie glatter, edler Hand-, Fuß- und anderer Abgüsse ihres Körpers in Porzellan mit Thüringer Strohhalm-Muster. Diese stabilen, klassischen Bilder menschlicher Anatomie stellte sie äußerst fragilen Abdrücken menschlicher Glieder gegen- über, geformt aus teegetränktem Seidenpapier, die Schattenseite der deutschen Geschichte im nahen KZ Buchenwald verkörpernd. Sophia Kosmaoglous Performance Une petit mort (1999), auch als Fotoserie präsent, wurde mitgeschnitten und auf ihr seiden-weißes, u. a. mit Gedanken zum Vegetarismus beschriebenes Biedermeierkleid projiziert. Sie hatte es am 4. Dezember 1999 in der Fleischerei Blässe am Weimarer Frauenplan getragen, als sie zum Buffet einlud und dazu, ihrer Initiation in die Gemeinschaft der Karnivoren beizuwohnen, denn nach 22 Jahren vegetarischer Ernährung brach sie das Tabu und aß wieder Fleisch – ein «kleiner Tod» –, von Sigmund Freuds Theorien über «Totem und Tabu» begleitet. Den paradoxen Wunsch, sich die Welt einzuverleiben bzw. das eigene Innere nach Außen zu kehren, zeigte Kosmaoglou in The Antisolipsist Sculpture (1999 – 2000) – zwei lederne, kunststoffperlenbesetzte Schläuche als eine Art Sitzsack, dessen Inneres man nach außen stülpen konnte. Im roten Séparée konnte der Besucher per Fragebogen Stellung zum eigenen Begehren beziehen, woraus später eine Computer simulation A Phase Portrait of Desire zur Struktur des Begehrens entstehen sollte. Der Jury für die Auswahl der Programmstipendiaten hatten Peter Herbstreuth (Berlin), Henry Meyric Hughes (London), Frank Motz und Dr. Rüdiger Wiese (beide Weimar) angehört.

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