Schreien der Möwe
16. Oktober bis 28. November 2004
Sa., 16.10.2004–So., 28.11.2004
Lesedauer etwa 2:00 Minuten
«Tesafilm und Schrauben sind mein Himmel auf Erden», das war ein Leitspruch Benjamin Bergmanns – Künstler, Architekt, Konstrukteur, Handwerker und Regisseur. Architektur, Material, Requisite, Licht, Luft, Ton und Aktion bestimmten die Arbeiten in seiner ersten Soloschau – Bewegung war den Installationen, Skulpturen, Materialcollagen grundsätzlich eigen. Ein riesiger, grammophonartiger Stahltrichter ragte aus einem Galeriefenster und sendete in längeren Abständen das Schreien der Möwe (2004) in die möwenlose, urbane Geräuschkulisse des öffentlichen Raums. Die Töne assoziierten Urlaub und Freiheit, aber auch Aggression und Verzweiflung. Für die Installation Abendmahl (2003) fertigte Bergmann aus einer Wohnzimmerkommode einen Beichtstuhl, ausgestattet mit zwei Tellern und Bohrmaschinen. Ausgelöst durch einen Bewegungsmelder, rotierten die Teller mit hoher Umdrehungsgeschwindigkeit. Der Beichtstuhl schüttelte sich. Irving Washington Bishop (2004) war eine Referenz an einen der wohl berühmtesten Gedankenleser (geb. 1856, gest. 1873, 1881 und 1889) überhaupt. Gelegentlich fi el er dabei in Trance, dann in einen Tiefschlaf und Starrkrampf, so als sei er tot, war aber scheintot. Trotz aller möglichen Schutzvorkehrungen wurde er in solch einem Zustand obduziert – und Bergmann baute deswegen eine sargähnliche Konstruktion mit mechanischem Signalfähnchen. Die rasanten Konsum- und Wegwerfmechanismen unserer Gesellschaft im Auge, richtete Benjamin Bergmann ein Fast-Food-Restaurant (2000) ein. Zu dessen Mobiliar gehörten vier Bänke, zwei Tische, eine Küchendurchreiche, ein Servierwagen und eine Garderobe, allesamt gefertigt aus einem zersägten Eichenkleiderschrank. Eine Servicekraft verabreichte einigen Gästen schnelles Essen – Haferbrei – auf fünf rotierenden Tellern, gekoppelt an Bohrmaschinen, was die Nahrung rasant auf Gäste, Wände und Mobiliar schleuderte. Zur Skulptur Fassadenportrait 001 (2004) ließ sich Bergmann von den Dachlandschaften New Yorks inspirieren, deren Giebel architektonischen Juwelen gleichen. 2002 installierte Benjamin Bergmann in der Leipziger HALLE 14 die großräumige Arbeit … und irgendwann will ich es wissen …, eine Referenz an jene, die unter ständiger Beschleunigung auf der Suche nach Mehr sind: uns. Daraus entstand der Plan für ein Landschaftsprojekt … Familie Watzmann, Grand Centrifugal Railway (2004). Ein überdimensionierter, mit Sperrholz, Pappe, Leim und Klebeband grob konstruierter Kronleuchter (2004) nahm einen ganzen Raum ein. Statt Kerzen veranstalteten kreisende, bunte Alarmleuchten in der Dunkelheit einen Wettlauf über die Wände des Galerieraums und versetzten ihn in einen chaotischen Zustand, der durch aufblitzendes Stroboskoplicht aus dem Inneren der Anlage noch eine Steigerung erfuhr. Ähnlich dem Rotor beim Hubschrauber oder Rotationsbeschleunigern in der Raumfahrt, rotierte in dem Aufbau Teilchenbeschleuniger (2004) ein wuchtiger Balken in Augenhöhe des Betrachters durch einen Raum, füllte ihn mit Energie, Geschwindigkeit und Kräften, die einen Moment kurz vorm Zerreißen, einer Explosion oder Implosion, umschrieben. Bei Betreten der Stallung (2002), einem aus Holzlatten gezimmerten Pferch, wie man ihn für Schweine und Ziegen baut, erwachte ein Rasenmäher zum Leben. Die Klinge des Elektrogartengeräts rotierte auf Hochtouren und fauchte wie ein Ungeheuer laut und bedrohlich vor dem Kopf des Eindringlings (Besuchers), wenn man den Verschlag öffnete und machte so elementares Gefahrenpotenzial erfahrbar. «Das Schöne an der Absurdität ist für mich die Nachhaltigkeit der Verwirrung. Irgendwann ertappt man sich bei dem Gedanken, dass eine gänzlich absurde Welt vielleicht viel schöner wäre», so Bergmann zu den Balanceakten zwischen Spiel und Gefahr, Energie und Fragilität.