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Ausstellungen

4LL OV3R TH3 PL4C3

Clara Winter + Miiel Ferráez

Ausstellung Sa., 27.05.2023–So., 13.08.2023

Clara Winter & Miiel Ferráez, Filmstill: Wikiriders, 2023

Lesedauer etwa 5:17 Minuten

Ausstellungseröffnung: Freitag, 26. Mai 2023, 20 Uhr.

Einmal im Jahr widmet die ACC Galerie Weimar einem Künstler, einer Künstlerin oder einer Künstler*innengruppe aus Thüringen bzw. einem angrenzenden Bundesland eine umfangreiche Ausstellung. Zuletzt waren dies Runhild Wirth, Anija Seedler, Till Ansgar Baumhauer, Norbert W. Hinterberger, Ulrike Theusner, Pavel Schnabel, Liz Bachhuber und Yvonne Buchheim. 2023 hat der Kunstverein Clara Winter und Miiel Ferráez, die zwischen Berlin und Mexiko-Stadt pendeln, eingeladen, eine umfassende Ausstellung zu ihrem bislang zehnjährigen gemeinsamen Schaffen zusammenzustellen, die sie 4ll ov3r th3 pl4c3 nennen.

4ll 0v3r th3 pl4c3 vereint Werke aus neun Jahren Zusammenarbeit zwischen Miiel Ferráez und Clara Winter. Dabei handelt es sich sowohl um sehr persönliche Projekte, in denen beide vor und hinter der Kamera agieren, als auch um Kollaborationen mit Gemeinschaften, denen sie sich nahe fühlen. Oft stellen ihre Herkunftsländer Mexiko und Deutschland einen wichtigen Ausgangspunkt dar, um globale Machtstrukturen und kulturelle Beziehungen zu untersuchen. Dabei bieten Ferráez und Winter sich selbst in ihren performativen Dokumentationen als Projektionsfläche für eine kritische Auseinandersetzung mit der Fortführung von kolonialen Gesten.
So untersuchen sie beispielsweise extraktivistische (Kunst-)Praxen und die Exotisierung des Fremden sowie Wirtschaftsstrategien und Marktpositionen von Ländern wie Deutschland, die davon profitieren, dass sich von der Kolonialisierung erholenden Ländern marktwirtschaftliche Beschränkungen auferlegt werden.
4ll 0v3r th3 pl4c3 feiert nicht nur Sprunghaftigkeit und Chaos, sondern erforscht auch Strukturen, die aus Widerstand, Trotz und Brüchen entstehen. In einem Labyrinth aus filmsetähnlichen Räumen werden unterschiedliche Szenarien und Meinungen sowohl thematisch als auch in ihrer installativen Form zusammengeführt – vom Hotelzimmer bis zur engen Seitengasse, von der White-Cube-Galerie bis zum Club, vom Straßenmarkt bis zur Kirche. Was mit einer kleinen Palmenhütte beginnt, öffnet sich in eine laute, chaotische und gewalttätige Welt und lädt die Betrachtenden ein, ihre eigene Rolle in dieser Umgebung zu erleben und diejenigen zu hinterfragen, die glauben, darin ein Recht auf Frieden und Ruhe zu haben.

Clara Winter studierte Videokunst an der Kunsthochschule Kassel und wurde Meisterschüler*in von Bjørn Melhus. Miiel Ferráez wurde in Mexiko geboren, lernte Englisch in Venezuela und wurde ein Kleinstadt-Emopunk-Star in Ocoyoacac, Mexiko. Gemeinsam erhielten sie einen Master in Fine Arts am Dutch Art Institute in Arnhem, Niederlande. Seit 2014 arbeiten Clara Winter und Miiel Ferráez regelmäßig zusammen. Ihre unterschiedlichen Herangehensweisen an das Filmemachen sowie ihr Hintergrund haben dazu beigetragen, eine Praxis der performativen Dokumentation zu entwickeln, bei der die Filmemacher*innen während des Filmens eine Figur »bewohnen«. Dies führt zu Videos, die sich stilistisch unterscheiden und die Rolle der Schaffenden sowie die der Betrachtenden hinterfragen. Bei der Behandlung von Themen, die sich um Machtdynamiken und historische Hierarchien drehen, versuchen sie, die Macht des Bildes selbst und die Mittel und die Logistik hinter seiner Entstehung nicht aus den Augen zu verlieren.

4ll ov3r th3 pl4c3 verweist nicht nur auf die Unordnung, sondern auch auf die Ausbreitung von Ideologien und Gegengeschichten sowie auf die gleichzeitige Koexistenz von widersprüchlichen Diskursen. Durch die Ausstellung zu gehen, ist wie einer Paraerzählung zu folgen: Sie steht nicht im Gegensatz zur Erzählung, sondern existiert tangential zum Konzept der »Geschichte«. Das Filmmaterial aus einem Jahrzehnt ist zerschnitten, überlagert und in einer nichtlinearen Anordnung in den labyrinthischen Sälen und Räumen der ACC Galerie Weimar platziert. Mit dieser Anordnung wird nicht versucht, eine Geschichte zu erzählen, sondern Narrative, denen einfache Antworten und klare Botschaften eigen sind, zu entlarven.

Die Künstler*innen arbeiten mit Unterbrechungen von Verhaltensmustern und Sehgewohnheiten, um einen Raum zu schaffen, in dem Positionen und Perspektiven überdacht werden können. Sie wollen, dass unerwartete Wendungen und plötzliche Themensprünge die Betrachter*innen irritieren und eine Alternative zu vorverdauten Diskursen sowie voreiligen und beruhigenden Schlussfolgerungen bieten. Der Wunsch, bei der überwältigenden Vielfalt der Realitäten zu bleiben, ist eine Gegenlogik zur Suche nach einem sicheren Raum, denn das Streben nach einem vertrauten Verständnis der Welt und einem bequemen Leben kann unglaublich entfremdend sein.

In einer aggressiven, chaotischen Welt liegt die Hoffnung darin, Wege zu finden, mit diesen Verletzungen umzugehen und sich in ihnen zu bewegen, ohne so zu tun, als gäbe es sie nicht; ohne zu hoffen, ihnen zu entkommen, sondern vielleicht eher auf die Idee eines Außen und Jenseits zu verzichten: Probleme als Teil des Lebens zu akzeptieren und nicht von dem Moment zu träumen, in dem alle Probleme gelöst sind.
Die gezeigten Videos sind aus Filmen zusammengesetzt, die zwischen 2013 und 2023 in Mexiko und Deutschland, den Geburtsländern von Miiel bzw. Clara, gedreht wurden. Das Filmemachen wird als ein «Worst-of» dargestellt, indem ein besonderer Fokus auf die ethisch und politisch fragwürdigen Momente gelegt wird, die das Filmschaffen, Geldausgeben und Bilderjagen mit sich bringen.
Diese Perspektive zielt darauf ab, die Grenzen zwischen Fiktion und Realität zu erweitern, nicht indem die Grenzen verwischt, sondern die Konzepte neu positioniert werden. Scheitern ist nicht nur möglich, sondern erwünscht. Das Ziel ist nicht, eine neue Ordnung zu erreichen, sondern eine Störung zu verursachen und bei ihr zu bleiben. Denn der Mensch hat nicht nur die Möglichkeit, die Fiktionen, die er Realität nennt, auszuwählen, er kann sie auch umschreiben und verdrehen.

Zu den Filmen, die als Versatzstücke in dieser Konzeptausstellung Verwendung finden, gehören, erzählt von Clara und Miiel, unter anderem:

Tenochtitlan 2021: Im Süden von Mexiko-Stadt ist ein Filmset verlassen worden. Es diente dazu, die Geschichte der Ankunft von Hernán Cortés in der mexikanischen Hauptstadt Tenochtitlan nachzuerzählen. Jetzt ist diese Kulisse selbst zu einer Ruine geworden und zu einem Ort, an dem die Zeit zusammenbricht und neue Knoten geknüpft werden. Der Film setzt sich aus zwei Wiederaneignungen dieser Szenerie zusammen: ein zeitgenössischer Dichter und eine Hexe, die ein Ritual zur Beschwörung der Vergangenheit durchführen, um den kommenden Generationen eine neue Erinnerung zu bieten, und ein YouTuber, der in die Archäologie dieser zeitgenössischen Geschichte eintaucht.

Maximum Surrender: Clara wacht in Mexiko auf und ist entschlossen, die ästhetische Ausbeutung der wenig privilegierten gegen die der wenigen Privilegierten zu drehen. Dennoch, der Euro-Peso-Wechselkurs und das Versprechen eines leichteren Lebens bleiben unbeschreiblich verlockend. Aber während das Leben einfacher wird, stellt sich das Projekt als immer komplizierter heraus. Hin- und hergerissen zwischen Selbstreflexion und Selbstironie, kommt Claras Bild vom Künstlerdasein ins Schlittern und es bleibt unklar ob deren Charaktere freiwillige Teilnehmer*innen oder ahnungslose Opfer sind. Um alles noch schlimmer zu machen, beginnt die Kameraperson, eine eigene Meinung zu haben. Als ein gut-geförderter Vorwand für eine stilistische Übung, ist Maximum Surrender eine performative Dokumentation allmählicher narrativer Desillusionierung. Ursprünglich konzipiert als interkulturelle Untersuchung, birgt das Resultat eine Reihe leerer Erhebungen und offener Bierflaschen.

Iztlacayotlán: The Guerrero Beach Project: Ein Filmteam stößt bei den Dreharbeiten zu einem Kurzfilm an der Küste von Guerrero an die Grenzen seiner Mittelklasseblase. Die Bedrohung durch Gewalt ist mehrdeutig. Vielleicht sind sie im Begriff, Kollateralschaden in einer Konfrontation zwischen Drogenkartellen zu werden, oder vielleicht sind die Leute, die sie fürchten, nur Fischer, und ihr unterbewusster Klassismus lässt sie glauben, dass sie in Gefahr sind.

Postcolonialism in 30sqm: Clara erträgt die Schuld nicht länger, Europäer*in zu sein und beschließt, einem Menschen der sogenannten «Dritten Welt» zu dienen. Miiel nimmt diese Geste an. Clara beginnt zu kochen, aufzuräumen und Stück für Stück ein paar neue Regeln zu installieren, um Miiel zu zeigen, dass deren ökonomische, hygienische und kulturelle Lebensstandards verbessert werden können. Clara versucht einfach einen Weg finden, der gut für sie beide ist. Miiel ist irgendwie unglücklicher als zuvor. In einer Mischung aus «Reality-Show»und«YouTuber»-Format verhandelt Postcolonialism auf 30 m2 im Kleinen Motivationen und Machtverhältnisse zwischen vermeintlich helfenden und Hilfe empfangenden Nationen.

Neosagradxs: Eine Videoinstallation über persönliche Wahrnehmungen von Heiligkeit, von Leben und Transzendenz in Räumen, die oft übersehen werden: die Göttlichkeit in lesbischen, trans und femininen Organisationsstrukturen, der queere Online-Avatar, die erotische Natur des Pulquetrinkens und die trotzende Fruchtbarkeit eines weiblichen Trans-Körpers. die Re-konzeption von Heiligkeit kommt nicht als Wunder, sondern als Versprechen auf Rache.

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