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Ausstellungen

Kunstbild-Wortkunst

Ausstellung Sa., 14.03.2020–So., 07.06.2020

KUNSTBILD: WORTKUNST

Lesedauer etwa 15:59 Minuten

teilweise verlängert bis 16.8.2020

Das Internationale Atelierprogramm von ACC und Stadt Weimar feierte 2019 sein 25-jähriges Bestehen. Drei Künstlerinnen und Künstler waren für jeweils vier Monate in Weimar zu Gast, lebten und arbeiteten im städtischen Atelierhaus zum Thema 100 Jahre Bauhaus — Von Wörtern und Bildern und Wortbildkunst. Die Ausschreibung zum Programm bezog sich anlässlich des Jubiläums Bauhaus100 auf die Grenzbereiche zwischen bildender Kunst und geschriebenen und gesprochenen Wörtern, um Wörter als Bild sowie Wörter mit Bild in neue Werke einer Wort-BildKunst zu verwandeln. Der Japaner Tsuyoshi Anzai, der Mexikaner Victor del Oral und die Deutsche Linda Pense wurden von einer Kunstfachjury aus 76 Bewerbungen (aus 31 Ländern) ausgewählt, nahmen am Programm teil und stellen nun gemeinsam in der ACC Galerie Weimar die Ergebnisse ihres Weimaraufenthalts, aber auch andere künstlerische Arbeiten aus.

Wenn Sie unseren virtuellen Rundgang besuchen, erhalten Sie viele Zusatzinformationen zu den Hintergründen und der Entstehung der Werke und können sich auch die Videoinstallationen in voller Länge ansehen. Erleben Sie unsere Ausstellung virtuell in 3D-Optik!

Tsuyoshi Anzai

Tsuyoshi Anzai interessiert, wie Wörter die Art und Weise steuern, wie wir Bilder und Objekte betrachten. Durch Unstimmigkeiten zwischen Wörtern und Bildern versucht er aufzuzeigen, wie uns die Welt erscheinen mag, wenn Menschen sich von den von ihnen selbst geschaffenen Bedeutungen befreien können.

Arbeit «Coccyx’ Identitätskrise»: Tsuyoshi Anzai erfand eine Reihe alltäglicher Zwecke für einen menschlichen Knochen, der keine klare Funktion zu haben scheint. Das Steißbein wird als Rudiment der Schwanzwirbel der Wirbeltiere angesehen, die sich im Laufe der menschlichen Entwicklung zurückgebildet haben. Für Menschen, die an die Evolution glauben, ist er ein Nachweis dafür, dass wir mit dem Tierreich verwandt sind, einst einen Schwanz hatten. Für Gläubige ist es das heilige Bein, das nie verwesen und den Keim der Auferstehung in sich tragen soll. Tsuyoshi schuf Reproduktionen eines Steißbeins, verpackte sie, als wären sie Waren, die in einem Supermarkt gefunden wurden und gab ihm neue Funktionen.

Arbeit «TBD»: Obwohl es sich bei den Motiven dieser Gemäldeserie um alltägliche Objekte handelt, ist auf den ersten Blick nicht klar, wofür diese Objekte bestimmt sind. Indem die Bilder aus den anthropozentrischen Kontexten wie ihrer Verwendung herausgenommen und Farben und Proportionen entfernt werden, ermutigen sie den Betrachter, die Objekte als reine Form zu betrachten.

Arbeit «Suche nach einem Porträt»: Diese Serie von Siebdrucken wurde aus Screenshots von Bildern entwickelt, die im Suchergebnis von Google-Bild angezeigt wurden. Mit Google-Bild kann nach Bildern anstelle von Schlüsselwörtern gesucht werden. Das Ergebnis waren Miniaturansichten der entsprechenden Porträts, die im Internet gefunden wurden.

Arbeit «Entfernung # 001»: Unter Verwendung des Mechanismus der Camera Obscura projiziert ein kastenartiges Gerät ein bewegtes Bild einer kinetischen Skulptur, die innerhalb des Geräts durch eine Linse auf einem Bildschirm platziert wird. Anzai versucht damit, die Wahrnehmung eines Objekts irgendwo zwischen Realität und Illusion anzusetzen. Tsuyoshi Anzais Weimarer Arbeit trägt den Titel #TagLife: Es sind zunächst Collagen von Fotos, die aus dem Weimarer Stadtarchiv stammen und aus den 1930er bis 1980er Jahren stammen. Die wurden gepaart mit Firmenslogans und Slogans auf Werbeplakaten aus der Gegenwart. So erzeugt Tsuyoshi Diskrepanzen und Spannungen. In Bezug auf die Beziehung zwischen Wörtern und Bildern haben Nazizeit, Sozialismus und Kapitalismus etwas gemeinsam.

Wie andere Projekte von Tsuyoshi Anzai basieren seine #TagLife-Poster auf der Herstellung von Zusammenhängen von bislang unverbundenen Dingen und Phänomenen. Mit dem Unterschied, dass die von ihm dazu gefundenen Dinge diesmal nicht plastische Objekte, sondern Bilder und gedruckte Worte sind. Den Ausgangspunkt bildete die Faszination für historische politische Propaganda-Poster aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Staatssozialismus der DDR, die längst aus den öffentlichen Räumen verschwunden sind. An ihre Stelle getreten ist eine überaus präsente Werbeindustrie mit Reklamepostern und Anzeigen, die darauf zielen, möglichst viele menschliche Bedürfnisse wirtschaftlich zu verwerten. Im Vergleich lässt sich leicht erkennen, dass nicht nur die Verfahren und Mittel der Propaganda und der Werbung in vielerlei Hinsicht ähnlich sind, wenn Bild-Text-Poster als Displays verwendet werden, in denen Texte und Bilder mit dem Ziel maximaler psychologischer Effekte montiert werden.

In seinen #TagLife-Postern führt Tsuyoshi Anzai die zusammengetragenen Bilder, Schlagzeilen und Überschriften in absurden, aber dennoch wirkungsstarken Montagen zusammen – ganz in der von Molzahn propagierten Wirkungsmechanik. Historische politische Propaganda-Bilder und aktuelle Werbeslogans sowie zeitgenössische Werbefotografien und agitatorische Schlagzeilen aus Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus benutzt Tsuyoshi Anzai wie einzelne Maschinen bzw. Bild- und Wort-Apparaturen. Indem er sie in den #TagLife-Postern grafisch zusammenfügt – man könnte auch sagen zusammenschaltet – entwickeln sie neue, unvorhersehbare Wirkungen. Jedes von ihm verwendete Motiv, jede Schlagzeile ist ja ursprünglich als eine Art verdichtete sprachlich-visuelle Effekt-Maschine oder als Bild-Wort-Apparat entwickelt worden. In den #TagLife-Postern treffen ihre Energien nun ganz anders als ursprünglich intendiert aufeinander.

Ein Schriftzug wie «Niemand begrenzt mich», der gestaltet worden ist, um damit Produkte für die individuelle kreative Betätigung zu bewerben, wirkt im Anschluss an Johannes Molzahn als «Wort-Mechane» oder Wort-Maschinismus, wenn er auf ein nationalsozialistisches Plakatmotiv trifft, dass Adolf Hitler als «Führer» zeigt. In dieser Konstellation kippen sowohl die ursprünglichen Bedeutungen des Bildes, als auch der Wortgruppe in etwas Neues und Anderes, das neue Deutungen auszulösen vermag. Die #TagLife-Poster lassen sich zwar durchaus auch als grafische Assemblagen beschreiben; im Kontext der künstlerischen Arbeitsnormen von Tsuyoshi Anzai erscheinen sie aber vor allem als eine Fortsetzung seiner maschinellen Konstruktionen, in denen er vormals kontrollierte Bedeutungen, Sinnzuschreibungen und Funktionalitäten in technischen Prozeduren mechanisch-trickreich auflöst. Um letztlich möglichst offen Assoziationen und Interpretationen frei zu setzen, ohne dass er das, was dann geschieht, selbst noch kontrollieren könnte oder wollte. (Torsten Blume)

Arbeit «Irgendwo im Stadion»: Das Video spielt in einer postapokalyptischen Zukunft und folgt zwei Männern, die herumreisten und forschten. Die beiden Männer graben Alltagsgegenstände unserer Zeit aus, diskutieren, wie und wofür die Gegenstände verwendet werden, und geben jedem einen Namen. Die Installation wirft die Frage auf, ob die Dinge festgeschriebene Bedeutungen haben.

Linda Pense

Linda Pense beschäftigt sich mit Sprache als modulierter Luft, die wie das Zaubersprechen des Luftgeistes Ariels in Shakespeares Sturm Atmosphäre und Wirklichkeit formt. Linda Pense: Zeichnungen, wie unmögliche Seekarten: pulsierende Signale, Kreise, die sich selbst zu zeichnen scheinen, Schraffuren, die wie unbemerkt in Flächen übergehen, Hintergründe, die sich in den Vordergrund schieben, Grenzen, die geschlossen und wieder durchbrochen werden, Punkte, die aus dem Dunkel blitzen, sich zu Linien dehnen und wieder verschwinden. (…) In Linda Penses Arbeiten lässt sich erahnen, was es bedeuten mag, sich die Welt nicht über das Land, sondern durch das Meer vertraut zu machen. (Niklas Hoffmann-Walbeck) 2019 und 2020 hat sich Linda Pense mit literarischen Inseln beschäftigt, um diese als «Troposphären» zwischen Meer und Land, Sprache und Bild zu verhandeln. Ihre Bilder erkunden grafisch, wie eine Form, ein Gedanke oder eine Figur sich zu bilden beginnt. (…) Die Insel, auf der William Shakespeare sein letztes Drama Der Sturm (1611) verortete, wurde für sie dabei besonders anschauliche Szenerie. (Torsten Blume) Dieser Theatertext wurde erstmals 1771 in Weimar ins Deutsche übertragenen. Dichter der Weimarer Klassik wie Goethe und Schiller hatten sich Shakespeare als Vorbild auserkoren, um ein neues bürgerliches deutsches Drama zu erfinden. Bis heute wurde Der Sturm in all seiner Sprachkunst und bildgewaltigen Metaphorik unzählige Male ins Deutsche übersetzt. I Dessen Protagonisten sind Gestrandete, die wesentlich der Luftgeist Ariel mit einer atmosphärischen Sprache, die auch das Meer zu bewegen vermag, hierher gebracht hat. Ariel kann mit seiner sprechend singenden Stimme nicht nur das Wasser, sondern alle Elemente, also auch die Luft, das Feuer und die Erde bewegen und darüber hinaus sogar das Denken der Menschen verzaubern. Seine Zaubersprache wird daher von Protagonisten des Stückes wie eine die Insel durchdringende Klangform – als eine «Insel (…) voll von Tönen» – empfunden und geschildert: «Musik? Ist sie im Boden, in der Luft? (...) / Das ist kein Lied von Sterblichen, nein, d e r Ton / Ist nicht von dieser Erde, Über mir /Hör ich ihn jetzt.» (Torsten Blume) Ariels Wesen und klingendes Sprechen sind. Linda Pense konzentrierte sich auf Ariels von den Klängen der Naturelemente kaum zu unterscheidende Zaubersprache, um die besondere Art seines Sprechens grafisch abzubilden. Ihre Aufzeichnungen von Ariels luftig-strömendem Zaubersprech laden ein, unsere Sprache als etwas Neues zu entdecken, das sie immer auch ist: tönende, modulierte Luft, die mit sinnlichen Phänomenen zusammenfällt.

Victor del Oral

Victor del Oral arbeitet mit der Qual des Schreibens und seinen konventionellen Formaten und untersucht Identität als ständige Verhandlung zwischen Sprache und Landschaft, indem er bewohnbare und einsetzbare Texte konstruiert. Er greift die Texturen von Nietzsches Schweigen in seinen letzten Jahren in Weimar auf und verwandelt sie in eine Choreografie von Masken, die sein Denken in unserer Gegenwart sowohl enthüllt als auch verdunkelt. Kunst ist für ihn eine andere Art, Philosophie zu machen – in der Welt zu sein und im Wort zu sein.

The mustache becomes the curtain of that theater of words and images: the mouth. That curtain is closed.

Die Arbeit «Besser nicht zu sprechen» ist eine Lecto-Skulptur, eine Installation und eine Performance, die den Körper und den Akt des Schreibens als grundlegende Teile ihrer Struktur integriert, eine Inszenierung von Phonemen, von Licht und Schatten, die den Text in seiner grafischen, skulpturalen und Schalldimension untersucht. Dieses ortsspezifische Werk greift die Texturen von Nietzsches Schweigen während seiner letzten Jahre in Weimar auf und verwandelt es in eine Choreografie von Masken, die sein Denken im gegenwärtigen Moment sowohl enthüllt als auch verdunkelt. Über das, was nicht gesprochen/gesagt/ausgesprochen werden kann, ist es besser, nicht zu sprechen. Die Möglichkeit der Unmöglichkeit zu sprechen ... Was ist Stille, wenn die Welt nicht aufhören kann zu sprechen? Die letzten Jahre des Philologen Nietzsche und seine Unfähigkeit zu sprechen sind ebenfalls Teil seines philosophischen Denkens. Warum könnte ein Mensch aufhören zu sprechen? Aus eigenem Willen? Weil sein Schnurrbart zu lang ist? Weil Wörter ihr Ablaufdatum überschritten haben? Weil an die Sprache der Kultur, in der man lebt, nicht kennt? Geisteskrankheit? Faulheit? Ressentiments der Gesellschaft? Traurigkeit? Eine politische Aussage? Ein Missverständnis? un compromiso con la belleza?

Die Arbeit von Victor Del Oral untersucht Identität als ständige Verhandlung/ Spannung zwischen Sprache und Landschaft. Ausgehend von diesem Prinzip konstruiert er LectoSkulpturen, lebende Skulpturen und Inszenierungen, die das Wort und den Körper integrieren, und untersucht Text in seinen grafischen, skulpturalen und klanglichen Dimensionen. Während seines Aufenthalts in Weimar hat Victor del Oral das klassische Erbe der Stadt und ihrer Texte als Choreografie verstanden, als eine Abfolge von Bewegungen des Textkörpers in einem historisch abgegrenzten Raum: der materielle Akt des Schreibens Jenseits von Gut und Böse, die Zusammensetzung/ Komposition einer gescheiterten Verfassung, die sich durch Panikattacken bewegt, Goethe, die Dämonen, die in der Einsamkeit leben, der historische Friedhof und der Tod von Nietzsche und die Text/ur der Architektur, die vom Bauhaus nicht verwirklicht wurde. Er nähert sich den Klischees dieses Erbes als/ mittels populärer Refrains, als Geister, die auseinandergenommen, übernommen oder zerstört werden müssen. Schreiben heißt, durch die Klischees der Geschichte zu gehen und ständig in Schlaglöcher zu fallen.

Victor del Oral untersuchte mit der Entwicklung von Lecto-Sculptures – komplexen und «lebenden» Installationen — das Medium Text in performativen Zusammenhängen. Im Spiel von Texturen, Buchstaben und typografischen Elementen bringt er Sprache und Welt, Sprache und Denken in einen dynamischen Verhandlungsprozess, der mit dem Bauhaus-Erbe ins «Gespräch» tritt. Zwischen Visuellem und Sprachlichem oszillieren seine grafischen, skulpturalen und choreografischen Methoden und bringen Verschiebungen und Affizierungen in Gang: Architekturen werden zu Worten, Poetik zu Objekten, Texte zu Landschaften – all das inszeniert sich in hybriden Gefügen. Worte können denjenigen verängstigen, der von ihnen lebt und sich an ihren Rhythmen betrinkt, sich über ihre Synästhesien und anderen Klänge lustig macht – bis hin zur Glossolalie, dem unverständlichen Sprechen. Wie in Weimar, wenn del (M)Oral Rivera in einem der immensen Räume des Gebäudes, das Hitler Nietzsche widmen wollte, lange Papierbahnen auf dem Boden ausrollt oder an den Wänden aufhängt.

An diesem Freitag, dem 11. Oktober 2019, schlüpft der Künstler in der Aktion «Better not to speak» in die Rolle des berühmten Philosophen, den er röcheln und durchdringende Schreie ausstoßen lässt. Der Künstler äfft die Haltung nach, die Nietzsche am Ende seines Lebens in Weimar gehabt haben könnte, nachdem er sich entschieden hatte, nicht mehr zu sprechen – und diese Weigerung verdeutlichte, indem er einen so langen Schnurrbart trug, dass dieser seinen Mund komplett verdeckte: die Lippen für immer hinter zugezogenen Vorhängen verschlossen. (Michel Blancsubé)

Die Eröffnung der Ausstellung mussten wir aufgrund der am 13.3. erlassenenen Allgemeinverfügung der Stadt Weimar im Zusammenhang mit Covid-19 und dem damit einhergehenden Veranstaltungsverbot für Publikum absagen, jedoch konnten wir über unsere Social-Media-Kanäle Facebook und Instagram Live-Streams anbieten.

Der Live-Stream über Facebook ist unter dem folgenden Link dauerhaft abrufbar. Ein ca. 40-Minütiger Rundgang mit Linda Pense, Tsuyoshi Anzai, Victor del Oral und Frank Motz gibt einen ersten Eindruck von der Ausstellung: https://www.facebook.com/accgalerie/videos/135842474520583/

Grußwort des Oberbürgermeisters Peter Kleine

zur Eröffnung der Ausstellung der Stipendiaten des 25. Internationalen Atelierprogramms der ACC Galerie und der Stadt Weimar

Liebe Stipendiatin und Stipendiaten des 25. Internationalen Atelierprogramms der ACC Galerie und der Stadt Weimar Linda Pense (Deutschland), Tsuyoshi Anzai (Japan) und Victor del Oral (Mexiko). Sie waren 2019 (bis einschließlich Januar 2020) für jeweils vier Monate in Weimar zu Gast und setzten sich in dieser Zeit mit dem Thema „100 Jahre Bauhaus — Von Wörtern und Bildern und Wortbildkunst“ auseinander.

Für uns als Veranstalter ist es wichtig, dass die Gastkünstler den Genius loci Weimars aufspüren. Zweifellos bieten Geschichte und aktuelle Bezüge reichlich Raum für innovative künstlerische Auseinandersetzungen. Die Ausstellung zeigt drei künstlerische Positionen zu den Grenzbereichen zwischen bildender Kunst und dem geschriebenen und gesprochenen Wort.

1994 von ACC Galerie und Stadt Weimar ins Leben gerufen, ist das Internationale Atelierprogramm das älteste Künstlerförderprogramm im Freistaat Thüringen. Bislang waren 84 Künstlerinnen und Künstler aus 40 Ländern in Weimar zu Gast. So ist das Atelierprogramm für Weimar zum Fenster in die Welt geworden. Wir sind sehr stolz auf unser internationales Künstlerförderprogramm, das Jahr für Jahr Kunstschaffende aller Kontinente zu einem kulturellen Dialog in Weimar zusammenführt.

Die Verbindung von Künstlerförderung und der Präsentation zeitgenössischer Kunst ist ein wichtiges Ziel des Atelierprogramms. Zukünftig möchten wir noch mehr öffentliche Plätze im Stadtraum für künstlerische Interventionen zur Verfügung stellen.

Der 85. Stipendiat des 26. Atelierprogramms, Mikhail Lylov aus Russland, arbeitet bereits am aktuellen Programmthema „Heimat“. Seine Kunst und die Arbeitsergebnisse der beiden ihm folgenden Stipendiaten werden im Frühjahr 2021 in der ACC Galerie vorgestellt.

Es bleibt also spannend und Sie dürfen sich, meine Damen und Herren, auf weitere interessante Ausstellungen im Rahmen des Internationen Atelierprogramms freuen.

Ein so erfolgreiches Künstlerprogramm setzt ein kontinuierliches Engagement - gepaart mit Idealismus und Leidenschaft voraus. Einen solchen Partner hat die Stadt Weimar mit Frank Motz und seinem Galerieteam gefunden. Dafür möchte ich Ihnen, Frank Motz, und Ihren Mitstreitern an dieser Stelle sehr herzlich danken. Danken möchte ich aber natürlich auch Linda Pense, Tsuyoshi Anzai und Victor del Oral für die gelungene Präsentation. Abschließend gilt mein Dank allen Förderern, der Sparkasse Mittelthüringen und der Thüringer Staatskanzlei und dem Förderkreis der ACC Galerie, für ihre wichtige Unterstützung.

Herzlichen Dank!

Peter Kleine

Oberbürgermeister der Stadt Weimar

13. März 2020

Interview: Abgerechnet wird später, wenn überhaupt.

Janek Müller im Gespräch mit Frank Motz über das Internationale Atelierprogramm der ACC Galerie und der Stadt Weimar, aufgezeichnet im Januar 2020

Janek Müller: Frank, welche Wirkung hat das Internationale Atelierprogramm der ACC Galerie und der Stadt Weimar?

Frank Motz: Jedes Programm gipfelt in einer Ausstellung der Stipendiatinnen und Stipendiaten, die natürlich nicht selten drei höchst unterschiedliche künstlerische Positionen vereint – trotz der jeweils gemeinsamen Themenvorgabe. Aus den professionellen Bekanntschaften mit den Künstlerinnen und Künstlern entstehen Freundschaften, manchmal Win-Win-Situationen, Commitments, Joint Ventures. Aus vier Monaten Aufenthalt in Weimar können leicht Jahre werden, in denen man sich an einander bindet, voneinander profitiert. Auch Jahre oder Jahrzehnte nach Ablauf eines bestimmten Programms werden zwischen ehemaligen Stipendiatinnen und Stipendiaten und der Galerie Pläne geschmiedet und Projekte verwirklicht. Die Künstlerinnen und Künstler sind unsere Begleiter und wir ihre. Die Materialisierung einer Verbindung im Prozess und in der Kunstwerdung ist, was das ACC mit dem Programm beabsichtigt.

JM: Wie entstand das Atelierprogramm?

FM: 1993 gab es quasi das „nullte“ Programm, einen viel zu kurzen Workshop „erSCHLOSSene Räume“ auf Schloss Ettersburg bei Weimar mit 23 europäischen Künstlerinnen und Künstlern aus 16 Ländern, viel zu Vielen. Zurechtgestutzt und handhabbar gemacht für die Möglichkeiten der ACC Galerie entstand daraus das Programm, das pro Jahr drei internationalen Künstlerinnen bzw. Künstlern für je vier Monate ein Atelier, eine Wohnung und später die ACC Galerie zur Verfügung stellt. Aber es ist genau dieses Programm, welches ob der Offenheit seiner Bedingungen, der Unberechenbarkeit des Verlaufs und der unerwarteten Vielfalt der Resultate von allen Projekten der ACC Galerie die meisten Überraschungen und Wendungen in sich birgt. Es ist eine Art Jungbrunnen für unser Kunst- und Kulturzentrum, es hält uns gut durchblutet, in Schwingung, Dynamik und Spannung. Es fordert unsere Spontanität, Flexibilität und unser Improvisationsvermögen. Künstlerinnen und Künstler, von deren Existenz wir weder wussten noch etwas ahnten, sind plötzlich unsere Gäste.

JM: Gastgeberschaft, das merkt man, spielt eine große Rolle.

FM: Ohne das Programm hätten die Künstlerinnen und Künstler niemals zu uns oder wir nicht zu ihnen gefunden. So wie sie einen Blick durchs Fenster hinein nach Weimar riskieren dürfen, schult das Programm unseren Blick von Weimar aus nach draußen und macht uns mit Verhältnissen beispielsweise in China oder Kolumbien, Kuba oder dem Irak, Mexiko oder Nepal, Pakistan oder Peru, Uruguay oder Simbabwe bekannt. Es ist unserem Bewusstsein davon, wie es uns und wie es anderen geht, und unserer Demut dem oder den Anderen gegenüber förderlich. Dabei sind das Feedback zum Programm und seine weltweite Wirkung natürlich nicht leicht auszumachen, seine Akzeptanz und sein Ruf sind schwer zu messen. Dennoch würde ich behaupten, dieses Programm ist unser wichtigstes Gut.

JM: Mit dem Atelierprogramm werden ja künstlerische Produktion und das Ausstellen von Kunst miteinander verschränkt …

FM: Der Künstlerin oder dem Künstler beim Produzieren über die Schulter schauen zu dürfen, das hat mich immer interessiert. Es mag diesem Interesse zuträglich sein, dass ich weder handwerklich noch künstlerisch veranlagt bin und meine Hochachtung, Ehrfurcht und ein wenig Neid jenen gilt, denen es gegeben ist, sich bildhauerisch oder malend, performativ oder fotografierend zu äußern. Nun klopft man als Nichtkünstler nicht einfach mal so an die Ateliertür. Der Betrieb einer Galerie ist also vielleicht mein Fuß in der Tür, um Einblick in die mir verborgenen Abläufe der Kunstproduktion zu haben. Das Atelierprogramm gibt mir das Gefühl, über einen längeren Zeitraum Anteil an der Kunstwerdung haben zu dürfen. Was mich fasziniert, ist, wie Künstlerinnen und Künstler die Galerie zu ihrer Werkstatt erklären oder in der Galerie ihr Atelier ausstellen, wie sie über das Scheitern oder das Dilemma der Kunst beraten oder als Quasi-Wissenschaftler im Kunstschauraum ihre Experimente machen. Als Begleiter und Dienstleister am schöpferischen Prozess mitwirken oder teilhaben zu dürfen und dabei auch die Kraft der Kunst als Dynamo, Illusion, Ansporn, Seismograph, Mutmacher, Zungenlöser, Trostspender, Therapie und was auch immer zu spüren, das ist aber nur das eine. Das Kreuzen oder „Einen“ von Produktion und Ausstellen, um Schnittmengen wahrnehmbar zu machen, ist für mich ebenso erstrebenswert.

JM: Welche Rolle spielt für Dich diese Verschränkung von Produzieren und Ausstellen?

FM: Es war uns bereits recht früh klar, dass die ACC Galerie nicht bei der reinen Zurschaustellung abgeschlossener Kunstpraxen und deren Ergebnissen, wie wir es beispielsweise mit Ausstellungen der Werke von Paul Klee und der Fotograf*innen am Bauhaus gemacht haben, bleiben kann. Das Ideenlabor der Kunst, das artistische Refugium, den Hort künstlerischen Schaffens, also das Atelier in das von uns offen gelegte Kunstuniversum einzubeziehen, das schwebte uns vor. Und damit auch, dass wir das Unvollendete, in Progress Begriffene, Verworfene oder nie Begonnene mit einbeziehen wollen.

JM: Gibt es da Vergleichbares, das Dich und Euch inspiriert hat?

FM: Die Londoner Matt’s Gallery von Robin Klassnik, in der das Gros der ausgestellten Kunstwerke erst vor Ort entsteht, weil die Galerieräume vorher drei Monate dem später ausstellenden Künstler als Atelier zur Verfügung stehen, ist sicher ein Paradebeispiel für das Ineinandergreifen von Kunstherstellung und -vorstellung. Und David Wilsons andachtsvolles Museum of Jurassic Technology in Los Angeles, in dem der Betreiber selbst zum Produzenten wird und der Gast sich nicht selten mit den Worten verabschiedet: „Es war schön in Ihrer Kirche …“, mag eine weitere Herberge für die Melange von Prozess und Resultat, für das Potpourri von Kunst und Leben und das Medley von Schöpfer und Betrachter sein.

JM: Inwieweit spielen „Sprache und Wörter“ in der zeitgenössischen Kunst Deiner Ansicht nach eine Rolle, werden dadurch Begrenzungen künstlerischer Medien aufgelöst?

FM: Ob Kunst oder nicht, ein Löwenanteil dessen, was wir an Signalen und Botschaften zwischen einander austauschen, um uns zu verständigen, besteht aus Wörtern und Sprache. Ein Ausgangspunkt unseres ersten Atelierprogramms „Allegorien“ 1994 war der Satz „Kein Volk, mein Freund, das je zu einiger Cultur gelangte, konnte bildlicher Vorstellung entbehren; die Sprachen der Wilden selbst sind voll von Allegorien …“ von Johann Gottfried Herder. Das Programm gipfelte 1995 in einer Ausstellung namens „Das Urwortmuseum“ und brachte bereits die Verquickung von Bild und Wort zur Sprache. Wenn wir auch in äußerst bildgewaltigen Zeiten leben, so ist das gesprochene, geschriebene, gelesene und gehörte Wort doch Türöffner, Lösungsmittel und Transmitter. Ich kenne Künstlerinnen und Künstler, denen die Kraft des Bildes allein nicht mehr ausreicht, um das auszudrücken, was sie sagen wollen, und die deswegen auf das Bildnerische gänzlich verzichteten und zu den Mitteln der Literatur greifen.

JM: Es gab in den Ausstellungen der ACC Galerie schon oft Künstlerinnen und Künstler zu erleben, die so arbeiten.

FM: Der Künstler Vik Muniz, dessen Arbeiten wir 2018 in der Ausstellung „Die Kunst der Simulation“ und 2004 in „Die Akte Weimar“ in der ACC Galerie gezeigt haben, befragt z.B. in seinen frei erfundenen Zeitungsartikeln, wie wir dem Informationsgehalt und Wahrheitsgehalt der schwarz auf weiß gedruckten Buchstaben und Ziffern Glauben schenken. Sprache und Worte als künstlerische Medien rufen beides hervor: Begrenzungen, Missverständnisse, Irritationen aufzulösen einerseits, aber andererseits schaffen sie sie eben auch. Sie sind Schmiermittel und Spielgeld des menschlichen Gedankenbaukastens, mit dem es sich wunderbar jonglieren und meisterhaft zaubern lässt. Ein anderer Künstler, Rory Macbeth, den wir 2013 ausgestellt haben, hat über mehrere Jahre Franz Kafkas „Verwandlung“ vom Deutschen ins Englische übersetzt. Allerdings intuitiv, ohne der deutschen Sprache mächtig zu sein, ohne Wörterbuch und Satz für Satz. Das Ergebnis „The Wanderer by Franz Kafka“ ist jedenfalls mehr als kafkaesk und bildete wiederum die Grundlage des englischsprachigen Scripts zum mehrteiligen Film „The Wanderer“, den die französische Videokünstlerin und Turner-Preisträgerin Laure Prouvost, die des Englischen nur dürftig mächtig war, drehte und dessen Protagonistinnen und Protagonisten eine Reihe von zunehmend bizarren und mysteriösen Erfahrungen durchmachen. So gehen Kunst und Sprache aufeinander ein und ineinander über, ergänzen sich und heben sich auf.

JM: Kannst Du beschreiben, wie Du Dir die Zukunft des Atelierprogramms vorstellst?

FM: Das Atelierprogramm geht nun in sein 27. Jahr. Unserem Erfahrungshorizont hat diese lange Zeit keineswegs geschadet. Natürlich ist ein solches Projekt kein Sofort- Sättigungsprogramm, seine Inkubationszeit dauert einfach länger, „abgerechnet“ kann erst viel später werden, wenn überhaupt. Aber mit dem, was aus der Welt nach Weimar und Thüringen zurückschallt, spiegelt und ehrt eine Stadt, ein Land letzten Endes sich selbst. Es ist diese Außenwahrnehmung unserer Gäste aus aller Welt, die, wenn wir genau hinschauen und gut zuhören, uns viel über uns selbst erzählen – ein nicht gering zu schätzender Vorteil, den nicht jede Stadt hat. Im Prinzip ist der Einsatz, den wir, Stadt Weimar und ACC Galerie, für das Programm in die Waagschale werfen, sehr klein und die Wirkung sehr groß.

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