Jenseits der Sehnsucht
Ausstellung Fr., 13.05.2011–So., 19.06.2011
Lesedauer etwa 2:11 Minuten
13. Mai bis 19. Juni 2011
Kathrin Schlegel (DE/NL) / Leila Tschopp (AR) / Christoph Ziegler (DE)
Das Ersehnte ist immer anderswo. Die Sehnsucht nach Erfüllung, Überwindung, Perfektion, dem Licht, dem Paradies, dem Wunderbaren, ist ein beglückendes, aber auch schicksalhaftes Gefühl. Seine Poesie «wiegt sich zwischen Erinnerung und Ahnung» (August Wilhelm Schlegel). Von alters her haben Menschen sich nicht nur nach dem idealen Partner oder der perfekten Gemeinschaft, sondern auch nach besseren Welten und gerechteren Gesellschaften gesehnt. Was aber steckt hinter jener «Krankheit des schmerzlichen Verlangens» (Jacob und Wilhelm Grimm), die dem Menschen oft lieber ist als deren Erfüllung? Was verbirgt sich hinter jener köstlichen, innigen oder durchaus leidvollen, wenn nicht gar vergeblichen Sehnsucht nach einer Person oder Sache? In den politischen Umwälzungen in Ostdeutschland, die sich 2009 zum zwanzigsten Mal jährten, lag für viele ihrer Protagonisten für eine zunächst unbestimmte, später sehr begrenzte Zeit die Sehnsucht nach einer neuen politischen Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die jedoch bald von der Realität eingeholt wurde, weil der reale Prozess der Vereinigung beider deutscher Staaten sich äußerst rasant vollzog. Das Verlangen nach einem politischen Wandel wurde mehrheitlich vom Verlangen nach Konsum und Kaufkraft überschattet, die Sehnsucht wurde zum endlichen, «leeren Wunsch, die Zeit zwischen dem Begehren und Erwerben des Begehrten vernichten zu können» (Immanuel Kant). Eine unendliche Sehnsucht jedoch, die keine Grenzen mehr kennt, visiert etwas Unerreichbares, nahezu Unbestimmtes an. Wenn uns bewusst wird, dass unsere vielmals grenzenlosen Wunschvorstellungen nie zur Gänze in Erfüllung gehen, sondern auf Grenzen stoßen, dass es so etwas wie eine «Endstation Sehnsucht» gibt: Was liegt dann jenseits dieser Sehnsucht? Ein fruchtbringendes Hinterland oder ein Friedhof unseres unbefriedigten Begehrens? Wie sieht jenes Unerreichbare aus, das «ewige Zuhause» (Joseph von Eichendorff), zu dem der Mensch als Reisender in unendlicher Sehnsucht unterwegs durch die Welt ist? Lohnt es sich überhaupt, sich auf die Reise nach jenem fernen Terrain zu machen, zu dem kein Kompass der Welt uns führen kann? Oder ist es das Streben nach dem Unerreichbaren, was dem Leben Sinn gibt, schöpferische Kraft entwickelt, für Widerstand sorgt? Thomas Hobbes stellte fest, dass Sehnsucht der elementare Antrieb allen menschlichen Handelns ist. Als Hauptinhalt des Lebens ist die Sehnsucht die oft unterschätzte, weil treibende Kraft jeglicher Weiterentwicklung – zum Beispiel jene Sehnsucht nach organisiertem Widerstand. Einer derer, die versucht haben, ihre Sehnsüchte tatsächlich in die Praxis umzusetzen, obwohl er um die Ungewissheit ihrer Erreichbarkeit wusste, ist der weithin unbekannte Jurist Christian Gottlieb Priber (1697 – 1748) aus Zittau (Deutschland). Als Ethnologe, Frühaufklärer und Sozialutopist schuf er mit seinem Entwurf eines idealen Gemeinwesens im 18. Jahrhundert das einzige uns bekannte Beispiel einer weltlichen Utopie unter einer Vielzahl religiöser Kommunen, obwohl er seine Republik, vielleicht in polemischer Absicht gegenüber den Frommen, «Königreich Paradies» nannte. Weil er wegen seiner Ideen und Sehnsüchte unter Beobachtung stand, verließ Priber in den 1730er Jahren seine Familie und floh über London nach Amerika, wo er von den Cherokee-Indianern aufgenommen wurde. Erst dort fand er Gleichgesinnte, die das Sozialexperiment nach seinen Maximen leben wollten. Nach wenigen Jahren geriet Priber in die Gefangenschaft der britischen Kolonisatoren, die seinem Paradies ein Ende bereiteten. Er starb in Haft, das Manuskript seiner ersehnten Republik – Kingdom Paradise – ist seither verschollen. Katerina Gregos (GR), David Galloway (US, DE), Johan Holten (DK, DE) und Henrik Schrat (DE) hatten als Juroren die teilnehmenden Stipendiaten dieses Atelierprogramms ausgewählt.